

Migrationsforscher Koopmans: Europas Asylsystem ist extrem ungerecht
Sebastian Kiefer in FALTER 12/2023 vom 24.03.2023 (S. 27)
Niemanden lassen die Bilder los: Weit mehr als 20.000 Menschen verloren allein im vergangenen Jahrzehnt ihr Leben im Mittelmeer, weil sie sich ein besseres Leben in Europa versprachen. Die lebensgefährliche Passage wagen kann nur, wer mobil, risikobereit und fähig ist, der Schlepperindustrie mehrere tausend US-Dollar für ihre düsteren Dienste zu zahlen. Die Mehrheit wurde nicht persönlich verfolgt, die aus Westafrika stammenden Menschen sind fast nie Flüchtlinge nach UN-Konvention. Dennoch suchen sie im Schengen-Raum um Asyl an, weil europäische Werte es mehrheitlich verbieten, Menschen in Herkunftsländer zurückzubringen, wenn dort ihre Unversehrtheit nicht gesichert ist, Transitländer die Rücknahme ablehnen oder wenn sich die Identität wegen fehlender Ausweispapiere nicht klären lässt.
Um in der EU Zuflucht zu erlangen, ist laut Ruud Koopmans vom Wissenschaftszentrum Berlin nicht der Grad der Schutzbedürftigkeit entscheidend, sondern Risikobereitschaft, physische Stärke, Zufall und Geld, denn fast alle, die den Schengen-Raum betreten, dürften auch bleiben. Jenen hingegen, die zu schwach, zu krank oder zu arm sind, um die Grenzen der EU zu überschreiten, komme niemand zu Hilfe. „Weil die europäischen Länder – anders als zum Beispiel Kanada, die Vereinigten Staaten, Australien und zum Teil auch Großbritannien – keine proaktive, planmäßige Flüchtlingspolitik betreiben, ist die Asylpolitik in Europa immer ein Spielball internationaler Ereignisse, die dazu führen, dass manchmal kaum jemand Europa erreicht, und zeitweise die Zahl der Flüchtlinge, die Europa erreichen, dramatisch zunimmt.“ Hohe Flüchtlingszahlen in kurzen Zeiträumen aber würden die Aufnahmegesellschaften überfordern.
Koopmans wurde Deutschlands führender Migrationsforscher, weil er geduldig gesichteten Daten folgt und sich dabei ebenso von Mitgefühl und Fairness wie vom Sinn für das Machbare leiten lässt. Sein letztes Buch, „Das verfallene Haus des Islam“, zeigte frei von Moralismen auf, dass muslimische Migrationsgemeinschaften weltweit zu jenen gehörten, die statistisch gesehen die geringsten Erfolge bei Bildung und Arbeit auch in der zweiten und dritten Einwanderungsgeneration erzielen und höhere Gewaltbereitschaft und Intoleranz zeigen. Ausführlich analysierte Koopmans auch die Gründe und Lösungsmöglichkeiten dafür.
Wie eine Neuregelung der Zuwanderung in die EU aussehen kann, das zeigt Koopmans in seinem neuen Buch in wiederum idealer Balance von ideologiefreier Datensichtung, Philanthropie und Sinn für das politisch Notwendige und Machbare. Er plädiert für eine Variante des australischen Modells: Asylverfahren sollen demnach außerhalb des Schengenraums durchgeführt werden; das macht irreguläre Zuwanderung unattraktiv. Das UN-Flüchtlingshilfswerk etwa solle jene auswählen, die die Hilfe am dringendsten brauchen.
Mit kooperationswilligen Ländern seien Rücknahmeverträge für irreguläre Migranten auszuhandeln, indem man im Gegenzug anbietet, Kontingente an Arbeitskräften und Auszubildenden legal und mit den Garantien des Wohlfahrtsstaates versehen nach Europa zu holen.
Ziel von Koopmans’ Modell ist nicht eine Reduktion von Zuwanderung, sondern Gerechtigkeit und Humanität. An dieser mangelt es einer Mehrheit der Deutschen nicht, wie die „Willkommenskultur“ für Syrer und jüngst für die Ukrainer bewies. Ihr fehlt lediglich der institutionelle Rahmen: „Wir können es viel besser, und wir sind es sowohl den Flüchtlingen als auch den eigenen Bürgern schuldig, endlich über unseren Schatten zu springen.“