

Die Welt, ein Kartenhaus
Georg Renöckl in FALTER 42/2024 vom 18.10.2024 (S. 33)
Wenn in der internationalen Politik wieder einmal irgendwo die Karten neu gemischt werden, sollte man dabei besser nicht an Spiel-, sondern eher an Landkarten denken. Schließlich geht es dabei meist um Geopolitik. Der einst mit Nazi-Gedankengut assoziierte Begriff wird heute nicht mehr zur Rechtfertigung expansionistischer Projekte, sondern zur Beschreibung der Zusammenhänge von Geografie und Politik verwendet. Er erlebt seit den 1980er-Jahren eine Renaissance. 1990 erfand der französische Politikwissenschaftler Jean-Christophe Victor für das französische Fernsehen ein „geopolitisches Magazin“, das seit 1992 unter dem Namen „Mit offenen Karten“ im deutsch-französischen Sender Arte läuft.
Seit 2017 wird die Sendung von der französischen Politikwissenschaftlerin Émilie Aubry präsentiert. Mit ihrem Kollegen Frank Tétart hat sie nun das Buch „Die Welt der Gegenwart“ herausgegeben. „Ein geopolitischer Atlas“ lautet der Untertitel.
Die Aha-Effekte, für die das geopolitische Magazin seit 32 Jahren verlässlich am frühen Samstagabend sorgt, sind in Buchform freilich nicht auf die gleiche, bequeme Weise herstellbar. Wer etwa die Entwicklung der Abhängigkeit Europas von russischem Erdgas verstehen möchte, muss sich trotz reicher Bebilderung so manche Information, die einem das Fernsehen als bewegtes Bild direkt an die Couch serviert hätte, eben selbst aus den Texten zusammenklamüsern.
Die Mühe lohnt sich. Beim dazu notwendigen Umblättern offenbart sich nämlich der riesige Vorteil, den das Buch gegenüber der Fernsehsendung hat: Querverbindungen zwischen den unterschiedlichsten Schauplätzen und Krisenherden werden beim Hin- und Herblättern zwischen den 28 „Destinationen“ von Aubrys und Tétarts Welt der Gegenwart unmittelbar deutlich. Wesentlich besser als mit der Fernbedienung in der Hand lässt es sich in diesem ungewöhnlichen Atlas lesend und blätternd zwischen den einzelnen, oft auf unerwartete Weise zusammenhängenden Kapiteln hin und her switchen.
Das zeigt etwa die neunte Destination, die Ölraffinerie Punto Fijo, mit der ein längeres Kapitel über Venezuela beginnt. Das Land verfügt zwar über 18 Prozent der weltweiten Ölreserven, ist seit 2018 aber von den USA mit einem Ölembargo belegt. Sorgte gerade noch der schwelende Konflikt mit dem Nachbarstaat Guyana für internationale Besorgnis, ist es heute die gewaltsame Unterdrückung der Proteste nach den gestohlenen Wahlen vom vergangenen Juli. Landkarten erklären die tiefe Spaltung des Landes am Orinoco. Ein Sechstel der Bevölkerung ist vor dem Elend ins Ausland geflohen. Was dieser Aderlass im weltweiten Maßstab bedeutet, führt eine weitere Karte drastisch vor Augen. Sie zeigt die Ströme von geflüchteten und asylsuchenden Menschen rund um den Globus. Zwei Drittel der 35 Millionen aus ihren Herkunftsländern geflohenen Menschen stammten im Jahr 2022 aus Syrien, der Ukraine, Afghanistan – und Venezuela.
Als blutroter Faden ziehen sich die Folgen der Geopolitik, wie sie derzeit Russland im alten, imperialistischen Sinn betreibt, durch das Buch. So auch in Destination Nummer 24, der malischen Wüsten- und Unesco-Weltkulturerbestadt Timbuktu. Dort wurden die Islamisten, die die Kulturdenkmäler teilweise zerstörten, ab 2013 von der französischen Armee in Schach gehalten – bis sich Frankreich aus Mali wie auch aus dem benachbarten Burkina Faso zurückziehen musste. „Dies ist ein wichtiger Wendepunkt in einer Region, in die neue ausländische Kräfte vordringen wie zum Beispiel die von Russland gesteuerte Wagner-Miliz, die der malischen Militärregierung nahesteht“, so Aubry und Tétart über die russische Geopolitik an unerwartetem Schauplatz.
„Die Welt der Gegenwart“ enthält auch einen Ausblick in die Welt von morgen, für den die Autoren den Blick vor allem in Richtung der aufstrebenden Weltmächte China und Indien richten. Oder nach Kanada, das zum Ausgangspunkt einer kurzen Reise zu den weltweit am stärksten vom Klimawandel betroffenen Regionen der Erde wird.
Auch wenn man sich da und dort noch mehr Tiefenschärfe wünschen würde: Émilie Aubry und Frank Tétart gelingt mit 130 Landkarten auf gut 200 Seiten eine globale Standortbestimmung, die einen in dieser Form einzigartigen Überblick über die politischen und geografischen Zusammenhänge unserer „Welt der Gegenwart“ vermittelt. An Prägnanz und Aha-Erlebnissen steht der Atlas der vertrauten Fernsehsendung um nichts nach.