

Europas Kunstwelt: Vor den Nazis durch die Berge ins Exil
Robert Misik in FALTER 16/2024 vom 19.04.2024 (S. 21)
Für die Süddeutsche ist es die "große Erzählung der deutschen Exilgeschichte", für Florian Illies in der Zeit ist es schon das wichtigste Buch der Saison: Uwe Wittstocks "Marseille 1940 - Die große Flucht der Literatur". Auf atemberaubende Weise rekonstruiert der Autor und Literaturkritiker die verzweifelten Rettungsaktionen europäischer Dichter, Künstler, Avantgardisten aus Frankreich, nachdem die Nazi-Armee die Republik gleichsam überrannt hatte und politische Dissidenten, jüdische Geflüchtete und antifaschistische Künstler in einer lebensbedrohenden Falle saßen. Es ist das Who's who der europäischen Kunstwelt, das sich panisch in den Südwesten Frankreichs geflüchtet hatte, in den Internierungslagern des Vichy-Regimes eingesperrt war -und dessen Überleben davon abhing, es innerhalb kurzer Zeit über Spanien und Portugal nach Übersee zu schaffen.
Das Who's who der Kunstwelt Heinrich Mann und sein Neffe Golo, Hannah Arendt und ihr Ehemann Heinrich Blücher, Lion Feuchtwanger, Marc Chagall, Marcel Duchamp, der antistalinistische Kommunist Victor Serge, Walter Benjamin, Anna Seghers, die Millionärin und Kunstsammlerin Peggy Guggenheim, der Surrealist André Breton, Alma Mahler, Franz Werfel, Politiker wie Rudolf Breitscheid und Rudolf Hilferding und viele andere mehr - ganze Bataillone der Geisteswelt wurden entweder auf abenteuerliche Weise gerettet oder scheiterten auf tragische Weise und kamen zu Tode.
Zentralfigur in Wittstocks packender, wie eine Art Tagebuch gebauter Episodendokumentation ist Varian Fry, ein amerikanischer Intellektueller, der die verdeckte Operation zur Rettung der europäischen Intellektuellen leitete. Er stand in Marseille dem US-"Emergency Rescue Commitee" vor, das faktisch direkt dem Weißen Haus unter Franklin D. Roosevelt unterstellt war.
Wobei es die First Lady Eleanor Roosevelt war, der die Rettungsaktionen besonders am Herzen lagen. Fry, einmal im Einsatz, entwickelte extreme Energie, scheute keine illegalen Aktionen. Das US-Außenministerium, das sich nicht von einer First Lady in die Geschäfte hineinregieren lassen wollte, behinderte die Arbeit wo immer möglich. In der großen Kriegstragödie gibt es auch noch die Geschichte des Kleinkrieges einander befehdender Institutionen.
First Lady als Retterin Es sind unglaubliche Episoden, die Wittstock zusammenträgt. Lion Feuchtwanger sitzt im Internierungslager, ist vom Tode bedroht. Seine Frau Marta macht sich zum US-Konsulat auf, wo unzählige Wartende stehen. Sie reicht dem Portier einen Zettel und wird, zu ihrer Überraschung, sofort vorgelassen, als wäre sie längst erwartet worden. Wittstock: "Tatsächlich ist das Konsulat von allerhöchster Stelle, von Präsident Roosevelt persönlich, aufgefordert worden, Feuchtwanger mit allen Mitteln zu unterstützen." Die zuständigen Konsularbeamten "vermuten, dass Eleanor Roosevelt ihren Mann dazu gedrängt hat".
Frys engste Mitstreiter waren zwei verwegene junge Leute, Albert O. Hirschman, später einer der berühmtesten amerikanischen Sozialhistoriker und Ökonomen, und Stephane Hessel, später Diplomat, der Jahrzehnte danach, schon in seinen Neunzigern, mit "Empört euch!" einen Weltbestseller landen würde. Wittstock hat eine Hand dafür, Monate von verdichteter Geschichte so zu erzählen, als wäre das lesende Publikum unmittelbar dabei.