

Die Freiheit und ihre Feinde
Ulrich Rüdenauer in FALTER 42/2024 vom 18.10.2024 (S. 36)
Der Begriff Freiheit scheint in den letzten Jahrzehnten zu einem Wort für Sonntagsreden verkommen zu sein, wenn nicht zu einer ideologischen Floskel, mit der vor allem Wirtschaftslibertäre rücksichtslose Maßnahmen und Ausbeutungsverhältnisse zu rechtfertigen suchen: Hauptsache, kein Staat, keine Regeln, keine Hürden für Güter und Geld, stattdessen geschlossene Grenzen für schutzsuchende Menschen. Der US-amerikanische Historiker und Philosoph Timothy Snyder („Bloodlands“, „Über Tyrannei“) nennt das „negative Freiheit“, eine Freiheit von. Das Gegenteil, die „positive Freiheit“, sei hingegen ganz schön ins Hintertreffen geraten – die Freiheit zu einem menschenwürdigen, selbstbestimmten und sicheren Leben also. Dass Snyder sein Buch während einer Reise in die vom Angriffskrieg Russlands erschütterte Ukraine beginnt, ist kaum verwunderlich: „Hier ist das Thema allerorten greifbar.“
„Über Freiheit“ ist mehr als eine deskriptive und historische Studie. Immer wieder bringt Snyder uns die Realitäten des 21. Jahrhunderts zu Bewusstsein. Die USA dienen ihm als Anschauungsobjekt dafür, was passiert, wenn Oligarchen und Möchtegern-Putschisten den Freiheitsbegriff missbrauchen. „Das Recht dient der Tyrannei“, schreibt er, „wenn es eine winzige Minderheit von Oligarchen begünstigt. Wenn Amerika ein Land der Freien werden soll, muss es das Recht auf seine gigantischen Ungleichheiten bei Vermögen und Einkommen anwenden. Allein die Durchsetzung der bestehenden Gesetze wäre ein guter Anfang.“
Fünf Faktoren führt Snyder für seine wertgebundene Auseinandersetzung mit der Freiheit an: Zunächst geht es um Souveränität oder „die erlernte Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen“ – souverän wird man als Kind, wenn man den anderen nicht als Objekt, sondern empathisch wahrnimmt. Der oder die andere ist eben kein verwaltbarer Körper, sondern ein fühlender Leib.
Als zweite Grundlage nennt er „die Fähigkeit, physikalische Gesetzmäßigkeiten den persönlichen Zwecken anzupassen“ – frei ist in diesem Sinne, wer Entscheidungen fällt, die aufgrund einer eigenen Wertebasis vernünftig, aber nicht unbedingt rational sind. Auch die Mobilität, die einen befähigt, sich durch Raum und Zeit zu bewegen und soziale Bewegungsspielräume zu haben, gehört zur Freiheit.
Punkt vier beinhaltet den Abgleich mit den realen Gegebenheiten der Welt. Wahrhaftigkeit erst erlaubt es, die Welt zu verändern. Zu guter Letzt würden diese Fähigkeiten ins Leere führen, wenn sie nicht solidarisch geteilt würden – nur durch andere können wir lernen; nur die Freiheit aller ermöglicht die Freiheit des Einzelnen.
Was die Freiheit bedroht, liegt gerade in den letzten Jahren offen zutage. Soziale Medien dienten vornehmlich der Desinformation, sie behinderten wissenschaftliches Denken. Dass es einem Teil der Wählerschaft schwer gemacht werde, überhaupt an Wahlen teilzunehmen, sowie das Gefängnissystem in den USA seien rassistische Versuche, einen Teil der Bevölkerung aus dem politischen Prozess auszuschließen und ihm damit Freiheit vorzuenthalten. Das Effizienzdenken mache Solidarität unmöglich. Der Leib werde nur als nutzbarer oder nutzloser Körper betrachtet. Und dass reiche Leute ihre Steuern nicht zahlen, führe zur Erosion demokratischer Institutionen.
Was Snyder für die Gegenwart herausarbeitet, ist so luzide wie düster. Und doch endet das Buch hoffnungsvoll – oder zweckoptimistisch. Auf Biegen und Brechen musste da wohl noch eine positive Aussicht hinein: Alles sei menschengemacht, wir könnten unser Schicksal in die Hand nehmen. Angesichts all der Krisen, Kriege und der Klimakatastrophe hätten wir eine letzte Chance, aber doch eine gute. Denn: „Unser Problem ist nicht die Welt, unser Problem sind wir. Und deshalb können wir es lösen. ... Wir können uns gegenseitig anerkennen, eine gute Regierung bilden und unser eigenes Glück machen.“