

Schuld und Sühne, Automobil und Autobiografie
Klaus Nüchtern in FALTER 31/2024 vom 31.07.2024 (S. 31)
In den frühen Morgenstunden eines Augusttages im Jahre 1963 kommt es auf der Straße zwischen den Schweizer Gemeinden Uznach und Glarus zu einem Unfall: Der Lenker eines roten Chevrolets verliert beim Überholen eines Fuhrwerks die Kontrolle über den Wagen und prallt frontal gegen einen entgegenkommenden lindgrünen VW Käfer. Der Chevrolet-Fahrer bleibt unverletzt, jener des Käfers bricht sich den Oberschenkel. Sein Beifahrer aber, der 33-jährige Oberarzt Manfredi del Buono, verstirbt Tage später an den Folgen eines Genickbruchs.
Zu diesem Zeitpunkt ist die Tochter des Verunglückten acht Monate alt. Sie ist zu jung, um zu trauern, ja ihren Vater auch nur zur vermissen. Aber 60 Jahre später treibt sie die Frage um, ob der Verursacher des Unfalls, er müsste Mitte 80 sein, noch lebt: "Und dann der Gedanke: Ich muss ihn suchen, ihn aufsuchen. Den Töter meines Vaters."
Bei Zora del Buonos Buch "Seinetwegen" handelt es sich also um einen Whodunit. Vom Gesuchten, der seinerzeit mit einer Geldstrafe von 200 Franken davonkam, kennt die Autorin zunächst nur die Initialen E.T.; wie die Nachforschungen ergeben, stehen sie für Ernst Traxler. Für das Krimi-Genre typische Elemente wie Spannungsaufbau oder rasantes Erzähltempo werden vernachlässigt; statt möglichst rasch von A nach B zu gelangen, nutzt del Buono fast jede Ausfahrt und Abzweigung, um auf eine Nebenfahrbahn auszuweichen oder einen Zwischenstopp einzulegen.
Recherchen und Reminiszenzen, Kaffeehausgespräche und Zeitungsmeldungen, Schlaglichter auf die Schweizer Geschichte bis zurück ins 17. und Statistiken aus dem 20. und 21. Jahrhundert werden collagiert, um ein ganzes Bündel an Themen aufzufächern und anzuspielen -Leben und Sterben, Schuld und Sühne, Mitleid und Vergebung, Lust und Verlust, Fremdenfeindlichkeit und Homophobie. Überladen wirkt das Buch dennoch nicht, denn del Buono vermag kurzweilig zu erzählen und in der Fokussierung auf Konkretes immer wieder überraschende Perspektiven zu eröffnen. Etwa wenn sie gleich zu Beginn auf die Erfindung und Entwicklung der Nackenstütze eingeht, die ihrem Vater das Leben gerettet hätte, oder -Auto und Autobiografie liegen hier tatsächlich nahe beieinander -sich der eleganten Sportwägen erinnert, in denen ihre mittlerweile in die Demenz entschwindende Mutter über die Straßen brauste und auch der Tochter zu Zusatzprestige unter deren Klassenkameradinnen verhalf.
Die Suche nach dem Täter/Töter führt die Tochter in Archive und Altersheime, konfrontiert sie mit hilfsbereiten Historikern und misstrauischen Zeitgenossen und fördert -spoiler alert! - Einsichten zutage, die die Detektivin in eigener Sache nicht zu antizipieren vermochte und nur schwer mit ihren Vermutungen und Vorurteilen abzugleichen vermag: "Sie müend wüsse, dä Traxler isch eine vo de Guete gsii", bezeugt einer, der unter diesem einst als Lehrling in der Gießerei gearbeitet hat.
Mitunter wird es dann aber doch ein bisschen zu viel. Etwa wenn sich die Autorin den vermutlich homosexuellen Traxler -"ein schwuler Hundefreund, das hat mir gerade noch gefehlt" - zurechtimaginiert, um ihn in die eigene Biografie einzupassen und auch noch von den wilden, vitalen und queeren Jahre im Westberlin vor dem Mauerfall zu erzählen. Ebenfalls nicht ganz uneitel und -kokett ist es, wenn sie mit der eigenen Empathiefähigkeit renommiert oder die Scham über den eigenen Mangel an Zivilcourage gar ostentativ ausstellt.
Das tut einer erquicklichen Lektüre aber keinen Abbruch. Und schließlich muss man Zora del Buono auch noch zugutehalten, dass sie eine Frage aufwirft, die andere nicht zu stellen wagen, die indes an ein Grundübel unserer Gegenwart rührt, nämlich die schier unfassbare Hässlichkeit von Pkws: "Warum nur wollen heutzutage alle graue und schwarze Autos fahren, wollen verschwinden in der gleichförmigen Unscheinbarkeit und gleichzeitig protzen mit hubraumstarken SUVs?"