

Offen für die Wirklichkeit
Michael Omasta in FALTER 25/2025 vom 20.06.2025 (S. 33)
Das frühe Kino, gemeint ist der Stummfilm rund um den Ersten Weltkrieg, gehörte den Streunern, den sogenannten Zufallshunden. Es war nicht üblich, Sets oder Straßen bei Dreharbeiten abzusperren, weshalb in Filmen jener Zeit ständig auch Vierbeiner durchs Bild laufen.
Ähnliches weiß Dominik Graf von einem Dreh ein Jahrhundert später zu berichten: "Bei der Totale einer hektischen Polizeirazzia in Teil 1 der Serie ,Im Angesicht des Verbrechens' (2010) mischte sich ein interessierter, sehr großer Hund begeistert bellend unter die Polizisten-SchauspielerInnen und KomparsInnen, die in das inkriminierte Lokal rannten. Natürlich haben wir diesen Take dann auch eingeschnitten, der aufgeregte zottelige Kollege sorgte eindeutig für noch mehr Leben in der Bude."
Unter den deutschen Filmemachern unserer Zeit ist Dominik Graf die Ausnahme. Einer, der nicht sein Ego spazieren führt, sondern Geschichten erzählen will, die mit der Realität zu tun haben. Der kompromisslos ist, nicht nur besserwisserischen Filmfunktionären gegenüber, sondern vor allem in der Wertschätzung und Liebe zu seinen Schauspielerinnen und Schauspielern.
Diesen widmet sich Graf nun auch in dem Buch "Sein oder Spielen. Über Filmschauspielerei", einer mitreißend geschriebenen, ebenso klugen wie gewitzten Auseinandersetzung mit seinem Metier. Als Spross einer Schauspielerfamilie und großer Cinephiler gelingt es dem Regisseur aus München scheinbar mühelos, Filmgeschichte mit der eigenen Berufserfahrung und gelegentlichen autobiografischen Einsprengseln zu verknüpfen.
Eine wichtige Erkenntnis stammt von Jean Renoir, dem Idol der französischen Nouvelle-Vague-Filmer der 1960er, der befand, dass man als Regisseur bei der Arbeit immer eine Tür offen halten sollte für die Wirklichkeit, falls sie den Wunsch hegt, einzutreten. Genau davon, wie man diese Möglichkeit - unter den immer strengeren Regularien der Filmproduktion heute - schaffen kann, handelt dieses Buch.
So etwa plädiert Graf für mehr Diversität beim Casting. Allerdings nicht, wie inzwischen üblich, bloß im Hinblick auf die sexuelle Identität, sondern vielmehr auf gemischte, aus Profis und Laien zusammengesetzte Besetzungslisten: Die "sind interessanter als durchgehende Schauspieler-Ensembles. Es kratzt akustisch ein wenig wie Kreide an der Tafel, wenn die Kontraste aufeinandertreffen".
"Setz dich, du Klappstuhl!", zitiert Graf eine berühmte Szene aus Klaus Lemkes "Rocker" - gesehen 1972, kurz vor dem Abitur, eine so prägende Erfahrung für ihn wie die Mondlandung. Wo gibt es heute noch Kiez-Sprache im deutschen Film und Fernsehen? Und wo die Schauspielerinnen und Schauspieler, die sie glaubhaft rüberbringen?
Lemke, der sein Leben lang abseits des Förderkinos und fast ausschließlich mit Laien arbeitete, ist für Graf einer der wahren Heros des deutschen Films. Was die "Wirklichkeit" betrifft, so fangen die Probleme ja schon mit dem Hochdeutsch in den Drehbüchern an.
Der erste Star, mit dem Graf arbeitete, war Götz George. Sie drehten drei Filme zusammen, so 1988 den Action-Klassiker "Die Katze" und zwei Jahre vorher einen "Tatort" im Ruhrpott. Dass jemand im Hauptabendprogramm spricht wie "Schimmi" damals ist längst unmöglich, stattdessen führt man heute Touristen auf den Spuren von Schimanski durch Duisburg.
Besonders spannend ist Grafs präziser Blick auf Schauspieler und sich verändernde Schauspielstile. Den Einbruch der Moderne ins klassische Hollywood macht er anhand einer Szene aus "Giganten" (1956) fest, in der James Dean den eigentlichen Star des Films, Rock Hudson, auflaufen lässt, indem er an ihm vorbeischaut: eine "geniale Ökonomie der Nicht-Blicke"(Graf).
Einen weiteren Wendepunkt im Starsystem markieren Größen wie Gene Hackman, die in den 1970ern die Zerrissenheit ihrer Figuren radikal nach außen zu stülpen beginnen. Ob als Privatdetektiv in "Night Moves" oder als Drogenfahnder in "French Connection" - kaum einer, bemerkt Graf, "hat dafür so prägnante Gesten wie Hackman. Achten Sie auf die Hände "
Mitunter genügt Dominik Graf ein Satz, um einen Schauspieler trefflich zu charakterisieren ("Alain Delon, der Buster Keaton des Gangsterfilms"), doch gern kommt er auch ins Schwelgen: bei Romy Schneider, bei Isabelle Adjani, bei Melanie Griffith. Die wunderbare Martina Gedeck und ihre "angeborene Meisterschaft in alltäglichen Dingen" würdigt er mit einem Karriere-Review: von den gemeinsamen Arbeiten (u.a. "Die Beute", 1986) über ihren Aufstieg zur "unfreiwilligen ,Staatsschauspielerin' der gewendeten BRD"(mit "Das Leben der Anderen", 2006) bis zum Comeback mit Filmen wie "Die Wand"(2012).
"Sein oder Spielen" ist so lustig wie lehrreich, definitiv das Filmbuch des Jahres.