

Wenn Gesetzesbruch vom Gesetz gedeckt wird
Robert Misik in FALTER 51-52/2024 vom 20.12.2024 (S. 27)
Gewaltfreier Widerstand, der Regeln und Gesetze bricht, ist eine große Erfolgsgeschichte. Das gilt für demokratische Rechtsstaaten, in denen es spektakuläre symbolische Regelübertretungen schaffen, unterdrückte Themen auf die Tagesordnung zu bringen. Das gilt sogar für Diktaturen: Untersuchungen zeigen, dass von den "erfolgreichen" und "teilweise erfolgreichen" Kampagnen die strikt gewaltfreien viel öfter erfolgreich sind als die gewaltsamen. Weil durch den "David gegen Goliath"-Effekt die öffentliche Meinung sogar in Diktaturen häufig zugunsten der Protestierenden kippt. Repression gegen gewalttätige Rebellionen lässt sich leichter "rechtfertigen", während umgekehrt Repression gegen friedliche Protestler Regime erst recht in Bedrängnis bringt.
"Ziviler Ungehorsam" in demokratischen Rechtsstaaten kann Themen in den Fokus rücken, die sonst ignoriert werden würden, etwa bei Straßenblockaden oder menschlichen Schutzringen gegen Abschiebungen, für den Klimaschutz (wie bei den Aktionen der "Letzten Generation") oder wie bei den Kampagnen der Tierschützer. Freilich, die positive Resonanz ist nicht automatisch garantiert.
Darf man Regeln brechen?
Die 34-jährige Frankfurter Juristin und Staatsrechtlerin Samira Akbarian hat sich nun des Themas "Recht brechen" in Demokratien angenommen, nichts weniger als "eine Theorie des zivilen Ungehorsams" entworfen und dafür prompt mehrere Preise abgeräumt. In ihrer brillanten Untersuchung durchschreitet sie nicht nur historische Exempel wie die US-Bürgerrechtsbewegung, die Occupy-Bewegungen nach der Finanzkrise oder die Klimaproteste, sie beleuchtet das Thema aus verschiedenen Perspektiven: der juristischen, diskurstheoretischen und moralphilosophischen. Die zivil Ungehorsamen brechen zunächst einmal Regeln. Damit verstoßen sie gegen das Gesetz und könnten als problematisch angesehen werden, da sie demokratische Verfahren nicht akzeptieren. Diese Gesetze sind schließlich demokratisch zustande gekommen.
Die Interpretation von Gesetzen aber, so Akbarian, erlaubt einen Spielraum. Und außerdem können Gesetze ja geändert werden. Zu dieser permanenten Neuinterpretation leistet der zivile Ungehorsam seinen Beitrag. Zivilem Ungehorsam geht es "gerade darum, die durch die Verfassung ausgestalteten Gerechtigkeitsprinzipien zu verwirklichen", formuliert sie -also etwa Freiheit oder Gleichheit.
Der eigene Körper als Protestmittel
Das ist alles keine überhochmetzte Rechtsscholastik. So proklamiert das deutsche Grundgesetz: "Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung." Gerichte haben diesen Artikel 20 zunehmend so interpretiert, dass Klimaschutz zwingend ist und ziviler Ungehorsam durch die Rechtsordnung gebilligt. Und zwar insbesondere dann, wenn vor allem auf die öffentliche Meinung abgezielt und ein Tatbestand der "Nötigung" nicht erfüllt wird. Das Recht ist veränderbar und fluide. Ganz ähnlichen Mustern folgte auch die US-Bürgerrechtsbewegung.
Ziviler Ungehorsam übt nicht Gewalt aus, ihn definiert, dass er den eigenen Körper passiv einsetzt und "die eigene Verletzlichkeit als Protestmittel" nutzt (Aktbarian). Er ist damit in doppeltem Wortsinn zivil: Bürgerinnen und Bürger üben ihn aus, und das auch noch auf "zivile" Weise.