

Als die Kinder im Wald verschwanden
Martin Pesl in FALTER 27/2025 vom 04.07.2025 (S. 29)
Wer war der Mörder? Ha, wenn es nur so einfach wäre! Als Barbara Van Laar aus dem waldigen Sommerlager in Upstate New York, das ihre eigenen superreichen Eltern finanzieren, verschwindet, wirft das eine ganze Menge Fragen auf: Ist sie tot? Wenn ja, wurde sie ermordet? Wenn ja, war es dieselbe Person, die auch ihren Bruder Bear vor 14 Jahren verschwinden ließ? Und war das wirklich derjenige, den man damals beschuldigte?
In Zeitsprüngen zwischen den 1950ern und 1975 sowie aus unterschiedlichen Perspektiven legt Autorin Liz Moore nach und nach offen, was passiert ist. Dabei spielt sie geschickt mit der Pfadfinder-Urangst, im Wald den Pfad eben nicht mehr zu finden. Ein Pageturner sondergleichen.
Panik kommt von Pan
Martin Pesl in FALTER 12/2025 vom 21.03.2025 (S. 8)
Dass das Wort „Panik“ von Pan kommt, dem Gott des Waldes, lernen die Kinder im Camp Emerson, Upstate New York, an Tag eins. Pan habe es geliebt, die Menschen zu täuschen und zu verwirren, sodass diese die Orientierung verloren. „Wer in Panik gerät“, erklärt die Leiterin des Sommerlagers, „macht sich den Wald zum Feind. Wer ruhig bleibt, ist sein Freund.“ Ganz wichtig: Wer feststellt, sich verlaufen zu haben, solle sich auf den Boden setzen und laut rufen.
Diese kleine Einführung erfolgt im Juni 1975, einer von sechs Zeitebenen, zwischen denen die einzelnen Kapitel von Liz Moores neuem Roman „Der Gott des Waldes“ wechseln. Zurück bis in die 1950er reicht die Vorgeschichte, danach folgt das schicksalhafte Jahr 1961, in dem der achtjährige Sohn der einflussreichen Campbetreiber-Familie Van Laar, genannt Bear, spurlos verschwand.
Weitere Kapitel spielen im Winter 1973, im Juni, Juli und schließlich im August 1975, der – zur leichteren Orientierung im Präsens geschilderten – Gegenwart des Romans, in der sich die Geschichte zu wiederholen scheint: Barbara, Bears erst nach dessen Verschwinden gezeugte Schwester, nimmt nun selbst am Lager teil – und liegt eines Morgens nicht in ihrem Stockbett.
Was ist passiert? Was hat das mit dem Fall vor 14 Jahren zu tun, der nie zur Zufriedenheit aller gelöst wurde? Und was hat ein allem Anschein nach konventionell erzählter Mystery-Thriller in der Falter-Buchbeilage verloren? Nun, die 1983 geborene US-Amerikanerin Liz Moore genießt in der Literatur einen Sonderstatus. Ursprünglich Musikerin, wandte sie sich vor knapp 20 Jahren dem Schreiben zu: Ihr Debüt „The Words of Every Song“ verknüpfte lose 14 Episoden über Menschen aus der Musikbranche.
Erst im Laufe ihrer literarischen Karriere näherten sich Moores Bücher über das Motiv weit zurückreichender Familiengeheimnisse dem Spannungsgenre an. Erst dieser Tage ist die TV-Serie „Long Bright River“ mit Amanda Seyfried angelaufen, die auf Moores gleichnamigem Bestseller basiert. Verbrechen und geheimnisvolle Abgänge spielen darin ebenso eine Rolle wie in „Gott des Waldes“, der wohl auch demnächst verfilmt werden wird. Den entscheidenden Boost für den Roman lieferte allerdings Barack Obama, der den im Original im Juli 2024 erschienenen Titel auf seine kultisch erwartete Sommerleseliste setzte.
Bei einem Thriller verbietet es sich, diesen durch exzessive Inhaltsangaben zu spoilern. Ein wenig darf dennoch verraten werden, zumal der Roman auch abseits des Mystery-Plots durchaus Interessantes zu bieten hat, etwa Frauen in sehr unterschiedlichen Stadien der Emanzipation. Da ist einmal die Ermittlerin Judyta „Judy“ Luptack, die im August 1975 die Suche nach Barbara Van Laar aufnimmt. Schon 26 Jahre alt, wohnt sie noch bei ihren Eltern, die sich weigern zu akzeptieren, dass Judy nicht jeden Tag nach der Arbeit zu ihnen ins zwei Stunden entfernte Schenectady fährt, sondern ein Motelzimmer in Campnähe nimmt. Als einzige Frau im Team mit den typischen Vorurteilen konfrontiert, überzeugt sie mit Kompetenz, entscheidet sich aber gegen „männlich“ brachiales Karrierestreben.
Auf der anderen Seite steht Alice, die Mutter von Barbara und Bear. Sie hat jung und ahnungslos in die elitäre Familie Van Laar eingeheiratet. Dass man sie dort für dumm hält, hat sie stets hingenommen. Seit dem Verschwinden ihres innig geliebten Sohnes ist sie auf ein Medikament eingestellt, das äußerst lebhafte Visionen verursacht.
Louise wiederum arbeitet als Betreuerin im Camp. Ihr gewalttätiger Verlobter hat ihr lange verschwiegen, dass sein Vater Anwalt der Van Laars und Gast auf deren Anwesen unweit des Ferienlagers ist. Und schließlich gibt es auch noch die freundliche, aber wenig selbstbewusste Tracy, die sich mit Barbara angefreundet hat und diese nun auf eigene Faust zu suchen beginnt – dabei aber feststellen muss, dass das mit dem Hinsetzen und Rufen leider gar nichts bringt.
Der Roman ist sorgfältig so konstruiert, dass die einzelnen Figuren ihre Geheimnisse möglichst lange für sich behalten. Damit das funktioniert, wechselt Moore Zeitebenen und Erzählperspektiven. Ohne in die Ich-Form zu kippen, bleibt die Narration sehr nah an der jeweiligen der rund zehn Figuren, die in der Kapitelüberschrift genannt wird: Auf „Louise“ im „August 1975“ folgt dann etwa „Alice“ im „Juni 1975“.
Eine solche Anlage des Spannungsaufbaus findet man in jüngeren Thrillern etwa der Bestsellerautorin Lucy Foley immer wieder, und auch Moore weiß diese souverän und effektvoll einzusetzen. Keine Frage, „Der Gott des Waldes“ ist ein Pageturner, der Barack Obama letzten Sommer garantiert ein paar schlaflose Nächte bereitet hat. Betrachtet man den Roman von einem literarischen Standpunkt aus, könnte man freilich bemängeln, dass er sein Ziel mit einer geringeren Vielfalt an Perspektiven und komplizierten Verbandelungen sowie falschen Fährten genauso gut und noch etwas eleganter erreichen hätte können. Anders gesagt: Der Gott Pan hat hier erkennbar seine Finger im Spiel.