

Wo wären wir ohne sie?
Gerlinde Pölsler in FALTER 42/2025 vom 15.10.2025 (S. 38)
Tief im Sauerland, Westfalen, im Jahr 1887. Eine junge Frau kommt die steile Straße hinauf ins Dorf Cobbenrode. Sie hat viel Gepäck dabei. „Anna ist 20 Jahre alt und soll die neue Dorfschullehrerin werden.“
Mit dieser Szene beginnt Henning Sußebach das Buch über seine Urgroßmutter, von der er bei Familienfeiern immer viel reden hörte. Vor zwei Jahren begann der Zeit-Redakteur ihre Lebensgeschichte zu erforschen. Entstanden ist ein anrührendes Porträt einer Frau, die sich gegen die Regeln ihrer Zeit erkämpfte, was sie wollte: Männer, Beruf, Freiheit.
Erst schien es, als gäbe es kaum Zeugnisse ihrer Existenz: zwei Poesiealben, ein paar Fotos, wenige Postkarten. Doch mit Hilfe vieler Menschen trieb der Autor Kirchenbücher, Schulchroniken, Katasterkarten auf.
Die Kindheit der Gastwirtstochter Anna währt kurz, denn als sie zwölf ist, stirbt der Vater. Die Mutter kann das Haus nicht halten. Sie verheiratet die älteren Töchter, Anna schickt sie in eine Klosterschule in die Niederlande: Sie soll Lehrerin werden.
Immer wieder lässt der Autor die Leser daran teilhaben, was ihm beim Nachforschen durch den Kopf geht. Wäre es Anna recht, dass er in ihrem Leben wühlt, sie analysiert? Dass er etwa ein Studiofoto von ihr als 20-Jährige betrachtet und in ihrem Lächeln eine „angriffslustige Ausstrahlung“ entdeckt?
In Cobbenrode ist die Neue als Lehrerin zwar eine Autorität, ihr Aktionsradius ist dennoch äußerst begrenzt. Sie bewohnt die Dachkammer oberhalb des Klassenzimmers. Als alleinstehende Frau kann sie kaum am Gesellschaftsleben teilnehmen: Allein ins Gasthaus oder auf ein Fest zu gehen gilt als unschicklich. Auch darf sie als Lehrerin nicht heiraten, tut sie es doch, muss sie ihren Posten quittieren: Einen Beruf auszuüben und zudem Mann und Kinder zu versorgen, ist undenkbar. Der Urenkel kann sich nur ausmalen, wie einsam die junge Frau gewesen sein muss.
Doch da tritt Clemens ins Bild, der begehrteste Junggeselle im Dorf. Spross der Familie Vogelheim, dem Machtzentrum im Ort: Landwirte mit Gasthof, Post und Handel. Clemens ist weltoffen, spielt Theater, kurvt mit einem der ersten Fahrräder im Dorf herum. Die beiden verlieben sich. Im Poesiealbum findet sich der Eintrag des 20-Jährigen an die 24-jährige Anna. Er zitiert Heinrich Heine: „Du bist wie eine Blume, So hold und schön und rein; Ich schau dich an, und Wehmut Schleicht mir ins Herz hinein.“ Das schreibt er in einer alten stenografischen Schrift, die kaum jemand entziffern kann. Denn: Die Verbindung darf nicht sein. Der Vater verbietet es, wäre doch jedes Mädchen im Dorf eine bessere Partie als Anna.
Clemens heiratet aber auch keine andere. Die Jahre ziehen ins Land. Sußebach fragt sich, wo die beiden sich treffen: Wie könnte in dem kleinen Dorf etwas unbeobachtet bleiben?
Das ganze Buch hindurch verknüpft Sußebach Annas Biografie mit der Weltgeschichte. 1900: Baden lässt Frauen uneingeschränkt zum Hochschulstudium zu. 1901: In Stockholm werden die ersten Nobelpreise verliehen. 1902 wird nicht nur ein junger Bolschewik deportiert, den die Welt später als Stalin kennenlernt: In Cobbenrode stirbt auch Clemens’ Vater. Am 4. Juli 1903 heiraten Anna und Clemens. Nach zwölf Jahren des Wartens.
Doch Ende September gerät Clemens in eine Dreschmaschine und stirbt: nach nur zwölf Wochen Ehe. Anna übernimmt alle Geschäfte – gegen den Willen von Clemens’ Familie. Sie sei dominant, „ein Donnerwetter“, heißt es. Und sie ist schwanger.
Neben der Versorgung ihres kleinen Sohnes führt Anna nun den Gasthof und bedient das einzige Telefon im Ort. Fünf Jahre später heiratet sie ein zweites Mal: den neuen Dorflehrer. Da ist er 24, sie 43. Mit fast 45 bringt sie eine Tochter zur Welt. Sie wiegt gerade so viel wie „anderthalb Brote“, eineinhalb Kilo. „Maria, das Kind gegen alles Gerede, alle Konventionen, alle Wahrscheinlichkeiten, überlebt“, schreibt Sußebach, „und wird später selber Kinder gebären, vier Töchter, die wiederum 13 Kinder haben werden: Eines davon bin ich.“
Was nimmt der Autor aus seiner Familienforschung mit? Für ihn ist nun klar: „Wir unterschätzen so viele gelebte Leben.“ Fast jeder Mensch werde wohl dem Treiben der Geschichte einmal die Stirn geboten haben. Und wir hätten das Bewusstsein dafür verloren, „dass wir ohne die Ideen, den Mut und das Durchhaltevermögen unserer Vorfahren heute nicht das Leben, die Rechte, die Freiheiten und Möglichkeiten hätten, die wir haben und die uns manchmal allzu selbstverständlich erscheinen“.
Und oft fragt Sußebach sich: Was würde Anna denken, wenn sie uns heute zusähe?