

Der Geschmack der Welt
Thomas Leitner in FALTER 42/2025 vom 15.10.2025 (S. 40)
Wer eine Geschichte des Geschmacks verfassen will, muss sich früh entscheiden – eigentlich. Das postuliert Ulrich Raulff in seinem jüngsten Werk „Wie es euch gefällt“. Die Wege dorthin definiert er so: „Der eine führt über die lichten Höhen des Diskursiven, auf dem Wegweiser steht ,Zu den ästhetischen Theorien‘ … Der andere führt in die sonnigen Täler des Interior Designs, der Kochbücher und Kostümgeschichten.“
Dankenswert, dass Raulff selbst sich nicht zwischen diesen Pfaden entscheidet. Beide sind ihm als einem der vielseitigsten deutschsprachigen Feuilletonisten (FAZ, SZ) vertraut, wie seine Publikationen beweisen. Neben einem theorie-euphorischen Werk über die intellektuelle Szene Frankreichs in den 1970ern findet sich eine liebevoll-elegante Kulturgeschichte des Pferdes; Arbeiten über den Kreis um den Lyriker Stefan George sowie die Gedankenwelt des Kunsthistorikers Aby Warburg zeigen den Autor als intimen Kenner so exklusiver wie einflussreicher geistiger Zirkel. Durch seine Tätigkeit als Übersetzer haben ihn bedeutende französische Theoretiker wie Michel Foucault und Pierre Bourdieu beeinflusst, mehr noch die phänomenologische Herangehensweise von Roland Barthes geprägt.
Paris, London, Florenz, Berlin sind markante Stationen in Raulffs Laufbahn, bevor er Leiter des Deutschen Literaturarchivs in Marbach wurde. Von überall hat er „Geschmackvolles“ mitgebracht und zu einem bunten kulturwissenschaftlichen Teppich verwebt, den er hier ausbreitet.
Einen Eindruck vom Raffinement, das scheinbar Gegensätzliches in Verbindung bringt, vermittelt bereits das Eingangskapitel: Audrey Hepburn im kleinen Schwarzen und der Pappbecher des coffee to go – „Frühstück bei Tiffany“ – trifft auf Johann Joachim Winckelmann, den deutschen „Urvater“ des Klassizismus. Original und Kopie, der Stil und sein Bruch können einander ergänzen – oder ausschließen!
Das Spannungsfeld von Austausch und Nachahmung umkreist Raulff in den darauf folgenden Miniaturen – „Zum Schönen führt nicht ein Prinzip, sondern eine tastende Suche.“ Ein besonders fruchtbares Feld dieser Wechselbeziehung von künstlerischer Weiterentwicklung und (auch) kultureller Aneignung stellt die Geschichte von Keramik und Porzellan dar, die Kontinente überschreitet und Jahrtausende dauert. Das beginnt mit dem Hin und Her von vorderasiatischen und fernöstlichen Waren, führt Jahrhunderte später zur Rezeption in Europa (Delft, dann Meißen) und einer letzten Blüte in England. Raulff zeigt die Beziehungen zwischen technischem Fortschritt, Markt und Publikumsgeschmack und schlägt Bögen zu Gartenkunst und Malerei.
Ein zentrales Thema ist das Verhältnis zwischen Europa und der restlichen Welt, das zunehmend als ausbeuterisch gesehen wird. Dafür liefert Raulff originelle Beispiele, wie das Auftauchen von Teppichen in der abendländischen Kunst. Erst Beutestücke aus dem Orient, werden sie durch ihr Abbild bei Flamen und Italienern „eingemeindet“.
Die Bandbreite der Themen ist schier unbegrenzt: Da gibt es ein Kapitel über US-Präsident Thomas Jefferson als klassizistischen Architekten. Madame Pompadour wird als erste Influencerin eingeführt, daran schließt die Entwicklung des französischen Kunsthandels durch die jährlichen „Salons“ an. Wesentlich für die Geschmacksbildung sind ab 1851 die Weltausstellungen. Dazu erzählt der Autor, wie man 1855 in Paris versuchte, als Konkurrenz der in London gefeierten Produkte französische Marken aufzubauen, etwa durch die noch heute bestehende Klassifizierung der Grand-Cru-Weine des Bordeaux.
So flaniert der Autor in einer veritablen Grand Tour durch die kulturelle Vielfalt der Welt. Hinter dem eingängigen Buchtitel verbirgt sich ein so raffinierter wie fintenreicher Text. Zwar setzt er so viel Wissen voraus, dass sein Leserkreis eher schmal sein wird – diesem allerdings wird er sehr viel Spaß bereiten.