
Diskussionen zwischen Körper und Gehirn
Kirstin Breitenfellner in FALTER 42/2025 vom 15.10.2025 (S. 45)
Viele Menschen betrachten ihren Körper als eine vom Gehirn gesteuerte Maschine. Die relativ junge Wissenschaft der Interozeption widerspricht diesem Bild, das seit René Descartes’ Epochenspruch „Ich denke, also bin ich“ das westliche Denken dominiert. Und sie empfiehlt, mehr in den Körper zu hören, um Krankheiten zu vermeiden und das Wohlbefinden zu steigern.
Die Wissenschaftsjournalistin Caroline Williams fasst in ihrem so informativen wie gut lesbaren Sachbuch „Sich fühlen. Die neue Wissenschaft der Interozeption als Schlüssel für körperliche und geistige Gesundheit“ den derzeitigen Stand der Forschung zusammen. Zu Beginn trifft man die Autorin in einem Floating-Tank an, in dem sie sich, von Außenreizen abgeschirmt, ihrer Innenwahrnehmung hingibt. Dazu gehören Herzschlag, Hunger, Temperatur, Müdigkeit, Energie, Freude und Schmerz.
Die Signale aus unserem Körper, erklärt Williams, teilen uns nicht nur einiges über unsere Bedürfnisse und unsere Gesundheit mit, sondern liefern auch „Anstöße für sämtliche Wünsche und Handlungen“. Der Volksmund weiß das schon länger und spricht davon, auf sein Herz zu hören oder dem Bauchgefühl zu vertrauen.
Die neuesten Studien bestätigen, dass die unzähligen Kommunikationskanäle zwischen Körper und Gehirn – vom Vagusnerv über das Rückenmark bis zu den Blutbahnen – in beide Richtungen verlaufen. An der Aufrechterhaltung der Körperfunktionen und der Gesundheit ist das Gehirn demnach weniger als Chef denn als gleichberechtigter Partner beteiligt. Das hat evolutionäre Gründe: Das Gehirn wurde nicht, „als es ausgeformt war, auf den Körper geschraubt; es ist aus dem Körper hervorgegangen, mit dem einzigen Ziel, diesen am Leben zu erhalten“.
Williams besucht Forschungsstätten und spricht mit Wissenschaftlern, bringt aber auch eigene Erfahrungen und die von Freunden ein. Sie erklärt, inwiefern die Arbeit der Mitochondrien den Energielevel des Körpers bestimmt und wie langsames Atmen mit sechs Atemzügen pro Minute Stress reduzieren kann.
Die gute Nachricht: Das Gefühl dafür, was im eigenen Körper vor sich geht, lässt sich trainieren. Neben vielversprechenden wissenschaftlichen Methoden empfiehlt die Autorin die alten Techniken von Meditation über Yoga, Kampfsportarten und Tai Chi bis zu Pilates, die das Körperbewusstsein stärken und damit auch die „Bodymental Health“. Nicht nur Achtsamkeit und Entspannung tragen dabei zur Verbesserung des Selbstgefühls bei, sondern auch das Aufbauen von Kraft.
Damit nutzt man nicht nur sich selbst, sondern auch anderen: „Genau wahrzunehmen, was im Inneren des eigenen Körpers vor sich geht, ist die biologische Grundlage für Mitgefühl – die Fähigkeit, die Gefühle anderer ,anzuzapfen‘.“ Die schlechte Nachricht: Man kann auch zu viel nach innen hören – und damit Schmerzwahrnehmung und Ängste noch verstärken.
Ein ganzes Kapitel ist Essstörungen gewidmet. Verdauung und Gefühle hängen zusammen. Etwa Entzündungen, Darmerkrankungen und Depressionen. Und Fettleibigkeit kann Stress und Angst als Ursache haben oder eine „Taubheit nach innen“. Dabei wird die Sehnsucht nach Trost als Appetit interpretiert. Williams versteht Sucht als einen verfehlten Versuch zum Erlangen eines Gefühls von Sicherheit und Wärme. Chronischen Schmerz führt sie auf eine gestörte Kommunikation zwischen Gehirn und Körper zurück. Ein neuer, erfrischend anderer Blickwinkel.
„Mit zunehmenden Erkenntnissen aus der Interozeptionsforschung“, fasst Williams zusammen, „wird immer deutlicher, dass es keinen Sinn ergibt, physische und mentale Krankheiten als separate Angelegenheiten zu betrachten.“ Zum Schluss wartet sie mit Tipps auf, die sich im Alltag leicht anwenden lassen. Vom Messen mit technischen Geräten bis zu Aufmerksamkeitsübungen. Inspirierend!