

Das Leben ist (k)ein Horrorfilm
Kirstin Breitenfellner in FALTER 12/2025 vom 21.03.2025 (S. 25)
Leo kommt von der Schule nachhause, aber sein Vater ist in der kleinen Wohnung nicht aufzufinden. Das lässt bei dem 15-Jährigen die Alarmglocken schrillen, denn sein Vater benimmt sich bereits seit einiger Zeit merkwürdig, er spricht davon, Geld geerbt zu haben, vergisst Namen und lässt überall in der Wohnung angebissene Bananen liegen. Das Verhalten hat einen Namen – Demenz – und eine Erklärung: Leos Vater war früher Boxer und hat fest eins auf die Rübe bekommen.
Jetzt hat Wolfgang, so heißt Leos Vater, also begonnen abzuhauen. Glücklicherweise erfährt Leo bald, wo er sich befindet. Wolfgang ist unangekündigt bei seiner Schwester, Tante Lisa, aufgetaucht. Einigermaßen verstört verlässt Leo die Wohnung ebenfalls, um seinen Freund Henri zu besuchen. Etwas Besseres fällt ihm nicht ein. Henri wurde in Bonn geboren und lebt mit seiner Familie in einer Villa am Stadtrand. „Alter bosnischer Adel, reich geerbt.“ Henris Vater hat eine Zeitlang für den Internationalen Strafgerichtshof gearbeitet und fragt Leo nach guter bosnischer Sitte nach dem Befinden aller Verwandten.
Die ungleichen Freunde Leo und Henri verbringen in Folge eine turbulente Woche, denn Wolfgang haut auch von Tante Lisa einfach ab und ist dann erst einmal verschwunden. Um Leo abzulenken, überredet Henri diesen, in der verwaisten Wohnung eine Party zu schmeißen und zuvor einen Film zu drehen, der dort dann Premiere haben soll. Henri ist nämlich Film-Nerd und möchte Regisseur werden. Er schwärmt für Quentin Tarantino und David Lynch. Auch Leos Faible für Filme und Schauspieler ist unübersehbar. Er telefoniert mit der imaginierten Nora Tschirner, und zu den meisten Personen, die ihm begegnen, fallen ihm Schauspieler ein, die diesen ähnlich sehen.
Gespiegelt wird diese Filmbegeisterung in Kapitelüberschriften wie „Sigourney Weaver“ (von dieser ist Wolfgang Fan), „Ryan Gosling“ (Henris Lieblingsschauspieler) oder „Blair Witch Project“ – so heißt einer der erfolgreichsten Horrorfilme von 1999, realisiert von drei Studenten mit Found Footage als Pseudo-Documentary. So etwas Ähnliches hat sich Henri auch vorgenommen – ohne Rücksicht darauf, welche Bedürfnisse Leo gerade hat.
„Er war es gewohnt, sich zu nehmen, was er wollte. Ich war es gewohnt, nicht zu wissen, was ich wollte“, beschreibt Leo die unterschiedlichen Charaktere von Henri und sich selbst. Henri übernimmt dazu passend die Rolle des Regisseurs, Leo gibt den Hauptdarsteller. Text bekommt er keinen und einen Namen auch nicht. Gedreht wird in einem abgelegenen Landgasthof von Henris Onkel – „The Shining“ von Stanley Kubrick lässt grüßen! Wenn die Lage mit Wolfgang nicht so ernst und der Film nicht so gruselig wäre, könnte man von einem retardierenden Moment des Romans sprechen.
Tatsächlich folgt nach der Rückkehr von Leo ins echte Leben ein Quasi-Krimi: mit einem Schließfach, in dem sich Geld befinden soll, und einem Hinterhalt, bei dem Leo gefangen genommen wird. Für noch mehr Aufregung sorgt Wolfgang, als er bei einer weiteren Flucht einen Unfall hat. Leo, dessen Mutter an Krebs verstarb, als er ein Jahr alt war, besucht seinen Vater im Krankenhaus. Sie sprechen sich aus. Aber wird jetzt alles gut?
Mit seinem Jugendbuchdebüt legt Tobias Wagner einen vielschichtigen Roman vor, der aufgrund seiner Themen, aber auch seiner cineastischen Anspielungen vielleicht erst ab 16 empfohlen werden sollte. Dafür aber mit Nachdruck. Er ist spannend und klug erzählt, packt schwere Themen an und zeigt gleichzeitig die Absurdität des Lebens auf.
„Das Leben ist eine Reihe von Katastrophen mit nur kleinen Breaks der Glückseligkeit“, erklärt Henri, der selbst schon einen Aufenthalt in der Psychiatrie hinter sich hat. „Das sagt meine Großmutter und es gibt keinen Grund, ihr nicht zu trauen. Es ist also völlig unnötig, dass du so regelmäßig down bist. Die Welt ist schräg, guck dir Hitler an oder Fukushima. Im Grunde haben wir keinen Schimmer, was wir hier sollen. Das ist unser Hauptproblem. Wenn du mich fragst, musst du herausfinden, worauf du wirklich Bock hast.“
Die Party findet am Schluss auf jeden Fall statt, und auch wenn Leo bei seiner Flamme Maya nicht so landen kann, wie er sich das gewünscht hat, endet das Buch mit einem optimistischen Ausblick.