

Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts
Alfred Pfoser in FALTER 41/2013 vom 11.10.2013 (S. 44)
Geschichte: Christopher Clark begibt sich auf die Suche nach den Ursachen des Ersten Weltkriegs
Christopher Clark startet sein Buch mit dem spektakulären Doppelmord im Belgrader Königspalast im Juni 1903. Eine Gruppe hochrangiger Verschwörer aus der serbischen Armee verschafft sich Zugang zum Königspalast und metzelt König Alexander und seine Frau Draga nieder. Dem König wird die Hand abgeschlagen, der Leichnam der Königin wird nackt und blutverschmiert in den Garten geworfen.
Blutrünstig wird der Regimewechsel bewerkstelligt, das Geschlecht der Karadjordjevic ersetzt das der Habsburger-freundlichen Obrenovic. Mit dabei als einer der nationalistischen Verschwörer: Dragutin Dimitrijevic-Apis, das Mastermind beim Mord am Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo am 28. Juni 1914. Das konspirative Netzwerk der Königsmörder schlägt elf Jahre später erneut zu.
Gleich vorne weg: "Die Schlafwandler" von Christopher Clark ist ein ziemlich gutes, gründlich gearbeitetes Buch, für die Komplexität des Themas erstaunlich plastisch geschrieben, mit Dutzenden eindrucksvollen Porträts, mit sehr lebendig geschilderten Szenen, "wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog".
Das 800-Seiten-Opus mit vielen bizarren Geschichten kommt als ehrgeiziges Projekt daher, immerhin will der britisch-australische Historiker die Vorgeschichte des Krieges als "das komplexeste Ereignis der Moderne" multiperspektivisch nachvollziehbar machen. Alle Historiker sind sich einig, dass der Erste Weltkrieg die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" war, weil er das mörderische Treiben zweier Weltkriege mit Millionen Toten und Verletzten einleitete.
Seit den 1960er-Jahren galt als historiografischer Konsens, dass das Deutsche Reich mit seiner auftrumpfenden "Weltpolitik" besondere Verantwortung für die Auslösung des Ersten Weltkrieges trug. In Berlin wusste man um die möglichen militärischen Folgen sehr gut Bescheid, als man der Habsburgermonarchie den "Blankoscheck" für den Regionalkrieg gegen Serbien gab.
Clark tritt an, an diesen Erklärungsmustern zu kratzen. Er hat darin ja schon Übung. Seine gelobten Bücher "Preußen" (2008) und "Wilhelm II." (2009) haben Klischees über die militaristische Führungskaste Deutschlands entlarvt. Jetzt setzt er diese Arbeit konsequent fort, indem er die deutsche Politik verständnisvoll beurteilt, genau auf die Vorgänge in St. Petersburg, London, Paris, Berlin, Wien, Konstantinopel oder Belgrad fokussiert und sich die Entscheidungssituationen ansieht.
Clark verschiebt die Akzente. Nicht mehr der "Blankoscheck", den sich die Wiener Führung Anfang Juli von Kaiser und Reichskanzler in Berlin geholt hat, gilt ihm als die Initialzündung für die Weltkrieg, sondern die in der Julikrise forcierte Konflikt- und Risikobereitschaft der Machteliten an den europäischen Schaltstellen sowie die Verkettung ihrer Befindlichkeiten und kleinen und größeren Entschlüsse.
Es war alles andere als ausgemacht, dass Europas Politiker das Heil in einem Krieg suchten. Weder zielten die (instabilen) Bündnisse dezidiert auf einen Krieg ab, noch waren die handelnden Personen auf den militaristischen Crash fixiert. Möglichkeiten, ihn abzuwenden, gab es genügend. Unter den gegebenen Umständen drückte aber niemand entschlossen genug auf die Stopptaste.
Clark nimmt vor allem das russisch-französische Bündnis in die Pflicht, betont die eskalierende Wirkung, die die russische Generalmobilmachung vom 30. Juli 1914 hatte. Aus St. Petersburg kam die Aufforderung nach Belgrad, beim Ultimatum gegenüber Österreich-Ungarn standhaft zu bleiben.
Es ist schon erstaunlich, wie affirmativ der britische Historiker die österreichische und wie kritisch er die serbische Politik beurteilt. Er unterstellt, dass die serbische Regierung über das Attentat vorweg informiert war (was nicht bewiesen ist). Und hat beinahe Verständnis dafür, dass Österreich-Ungarn den Krieg gegen Serbien beschloss, weil man sonst Schwäche gezeigt hätte.
Er behauptet, dass ein ernstlich am Frieden interessiertes Serbien dem österreichischen Ultimatum voll hätte nachkommen müssen (obwohl es so geschrieben worden war, dass es von Serbien nicht angenommen werden konnte), meint gar, dass die habsburgische Regierung nicht unmittelbar nach der Kriegserklärung mit dem Krieg startete, weil sie noch auf eine Verständigung hoffte. Clark braucht einige Verrenkungen, um seine Thesen durchzubringen. Trotzdem empfehlenswert.
Im Schlafwagen an die Weltkriegsfront
Norbert Mappes-Niediek in FALTER 41/2013 vom 11.10.2013 (S. 20)
Christopher Clark beschreibt den Ausbruch des Ersten Weltkriegs als große Tragödie – und sieht dabei frappante Parallelen zur Eurokrise
Selten fällt ein Gedenktag so glücklich wie der große im nächsten Jahr. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs agierten viele verantwortliche Akteure mal mehr, mal weniger verantwortlich im Bemühen, eine drohende europäische Katastrophe abzuwenden. Ganz wie heute in der Eurokrise. Der große Schurke war nicht unter ihnen, aber jeder Einzelne hatte den Kampf gegen das große Verhängnis gegen andere Interessen abzuwägen: die seiner Nation, seiner Partei oder seiner selbst. Damals wie heute.
"Die ganze Zeit über", schreibt Christopher Clark treffend, "nutzten die politischen Akteure während der Eurokrise die Möglichkeit einer allgemeinen Katastrophe aus, um sich bestimmte Vorteile zu verschaffen." Genau dieses Verhältnis macht der Historiker in den Jahren 1911 bis 1914 aus. Den Gegenwartsbezug braucht Clark nicht erst herbeizuschreiben. Energie muss man nur aufwenden, wenn man ihn verdrängen will.
"Eine Tragödie, kein Verbrechen" nennt Clark den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Anders als die vielen Vorgänger, die sich an dem großen Rätsel der Weltgeschichte schon abgearbeitet haben, interessiert er sich nicht für die Kriegsschuldfrage, sondern für die Konstellation, für die systemischen Zwänge. Nicht den großen Ideen gilt sein Augenmerk, den geheimen Absichten und Komplotten, sondern den Missverständnissen und ungewollten Zwängen, die in der Interaktion entstehen; ein sehr moderner Blick.
Deutsche Hauptschuld?
Zwei Machtblöcke hatten sich zusammengeschoben: die Entente aus Frankreich, Russland, Großbritannien auf der einen und der Dreibund aus Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien auf der anderen Seite. Anders als im Kalten Krieg waren beide Blöcke instabil; keine Ideologie hielt sie zusammen.
Der Dreibund bestand nur noch auf dem Papier, denn Italien hatte mehr Konflikte mit Österreich-Ungarn als mit jeder anderen Macht. Lauter Seitensprünge – und darauf folgende Eifersuchtsattacken der Verbündeten – kennzeichnen das Verhältnis innerhalb der Allianzen: Berlin flirtet mit Moskau und ärgert Wien, London mit Berlin und ärgert Paris. Das einzige stabile Element im Bündnissystem ist die Feindschaft zwischen Deutschland und Frankeich.
Im Zentrum jeder einzelnen Macht handeln mindestens drei Akteure – die beschwichtigende Diplomatie, die kriegslüsterne Generalität, der irrlichternde Monarch oder, im Falle Frankreichs, Präsident.
Clark beleuchtet sie alle, ihre Interessen, ihre konstitutionelle Stellung, die Charaktere. Genauso intensiv nimmt er die Machtfaktoren in Serbien in den Blick und streift sogar Bulgarien. Meisterlich gliedert Clark die vielen Kubikmeter an Quellen, ohne platte Gegensätze aufzubauen. Kaiser Wilhelm II., der Erzherzog Franz Ferdinand und der serbische Premier Nikola Paić werden behutsam und nachvollziehbar gedeutet. Auch weniger bekannte französische, russische, serbische Diplomaten werden lebendig. Der Autor folgt seinen tragischen Helden bisweilen sogar bis ins Schlafzimmer. So kommt man gut durch 900 Seiten voller Leute, die man bisher gar nicht oder kaum kannte.
Auch wenn Clark selbst keine Kriegsschuldthese entwirft, muss er sich mit den vorhandenen doch auseinandersetzen. Das tut er zwar unaufgeregt und ohne Arroganz, aber das Buch liest sich passagenweise dann doch wie eine Ehrenrettung der Mittelmächte. Zum systemischen Ansatz will das nicht recht passen. Zu übermächtig ist wohl in den Köpfen, auch im Clark'schen, der Paragraf des Versailler Vertrags, der Deutschland und seinen Verbündeten die "Hauptschuld" gibt, zu lebendig auch die Erinnerung an die 1970er-Jahre, als der deutsche Historiker Fritz Fischer den Siegermächten zum Entsetzen seiner Landsleute Recht gab.
Wo ist die Sozialdemokratie?
Anker der These von der deutschen Hauptschuld in den Quellen ist der "Kriegsrat", den Wilhelm II. am 8. Dezember 1912 mit seinen Generälen hielt und wo der Kaiser das Szenario entwarf, das später tatsächlich eingetreten ist. Aber Wilhelm redete eben viel, wenn der Tag lang war, meint Clark.
Sicher hat auch Clark nicht immer Recht. Gerade weil er so lauter argumentiert, nicht blufft und seine Gedanken bereitwillig preisgibt, ermuntert er auch zum Widerspruch. Wiederholt geißelt er die These, das Habsburgerreich sei ohnehin "todgeweiht" gewesen, eine Überzeugung, die Wiens Position im Konzert der Mächte schwächte und einen Krieg gegen das anachronistische Imperium entschuldbar machte.
Entgegensetzen kann Clark der These nicht mehr als das Axiom, dass die Geschichte nach vorne immer offen sei. Aber wenn es ein Konstante gab, dann die, dass der Gedanke an Nation und Volkssouveränität sich von West nach Ost fortfraß. Das tut er bis heute. Österreich-Ungarn hatte der nationale Gedanke längst erfasst, und auf die Frage, wie die Struktur des dynastischen Gebildes mit Demokratie kompatibel gewesen wäre, hat bis heute niemand eine Antwort.
Zu Clarks modernem Blick auf den Ersten Weltkrieg hätte auch die Suche nach "Resilienzfaktoren" gepasst, den Kräften also, die gegen das Verhängnis hätten immunisieren können. In Deutschland und Frankreich gab es damals eine starke, internationalistisch orientierte Sozialdemokratie, die den Generalstreik hätte ausrufen können und damit sozusagen den Griff an der Notbremse hatte. Aber sie zog sie nicht. Wenn man weiß, warum nicht, kann man für die Gegenwart vielleicht mehr lernen als aus den komplizierten Interaktionen der Diplomaten. Weiß übrigens jemand, wo die europäische Sozialdemokratie in der Eurokrise steht?