

Der Kaiser und sein Doppelgänger
Albert Eibl in FALTER 3/2021 vom 22.01.2021 (S. 21)
Warum spielen epidemische Katastrophen in der neuzeitlichen Geschichtsschreibung fast keine Rolle? Wie kam es im Königsberg der 1830er Jahre zu einem Sexskandal, der Preußen für Wochen in seinen moralischen Grundfesten erschütterte? Was ist eine bedeutende Schlacht? Wie werden in Zukunft Kriege geführt werden? Was könnten Manager heute von Bismarck lernen?
Wer sich für diese und viele weitere absurde, interessante und verblüffende Fragen der kleinen und großen Weltgeschichte interessiert, wird an dem neuen Essayband des australischen, in Cambridge lehrenden Historikers Christopher Clark seine wahre Freude haben. Schon in seinem bahnbrechenden Weltbestseller „Die Schlafwandler“ (2012) ging es ihm darum, historische Ereignisse zuvorderst in einem multipolaren Referenzrahmen zu betrachten und einseitige Kausalschlüsse zu vermeiden.
Clark begreift Weltgeschichte als das, was sie ist: ein dynamisches Movens beständig sich wiederholender Unwägbarkeiten, die alle irgendwo einen Ursprung haben und sich über die Gipfelpunkte epochaler Einschnitte zu einem spannenden Narrativ verbinden, das im besten Fall sogar von Nebukadnezar bis Donald Trump reicht.
Insofern ist Clark historischer Abenteurer und Geschichtsskeptiker zugleich. Auch wenn er in seinem Zweifel an der transzendentalen Sinnhaftigkeit menschlichen Strebens sicher nicht so weit gehen würde wie Hegel, der einmal meinte, die Geschichte lehre nur eines, nämlich, dass man nichts aus ihr lernen könne.
Aus Clarks brillanten historischen Miniaturen, in denen er vom Hundertsten zum Tausendsten springt und sich mit viel Freude am Detail souverän über Themen-, Gattungs- und Epochengrenzen hinwegsetzt – über pointierte Charakterstudien von Hitler und Himmler gelangt er beispielsweise zu Karl Ove Knausgårds monumentaler Selbsterforschungshexalogie „Mein Kampf“ – lässt sich vor allem eines lernen: Die meisten historischen Narrative drehen sich um Machtfragen, um nach Macht strebende und Macht ausübende Akteure.
Das liegt vor allem daran, dass jede Erzählung, auch die historische, Protagonisten braucht, die mit ihrem Handeln Ereignisse provozieren, die ihrerseits das Rad der Weltgeschichte weiter- oder eben wieder zurückdrehen.
Als Paradebeispiel eines solchen Hinter-sich-selbst-Zurückfallens der Geschichte bezeichnet Clark die Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten. Trumps Präsidentschaft hätte bewiesen, „dass sogar eine reife, mächtige und selbstbewusste Demokratie, die sich auf liberale Werte stützt, atavistische Ungeheuerlichkeiten hervorbringen kann“.
Gleichermaßen böse, zutreffend und amüsant sind die Parallelen, die er zu Wilhelm II., dem letzten und zweifellos unfähigsten aller deutschen Kaiser zieht: Beide, Trump und Wilhelm, „weisen eine ausgeprägte Neigung auf, über alles zu plappern, was ihnen in einem bestimmten Moment gerade durch den Kopf geht.
Eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, extreme Reizbarkeit, die Tendenz, unter Belastung logisch inkohärentes Zeug zu faseln, Probleme bei der Aggressionsbewältigung, ein gebieterisches Auftreten, Gefühlskälte und fehlende Empathie, eine ungeheure Prahlsucht, regelrechte Schnapsideen, sarkastische Seitenhiebe und anzügliche Witze sind bzw. waren bei beiden gang und gäbe.“
Immerhin ist Clark so fair, die beiden Staatsoberhäupter nicht gänzlich über einen Kamm zu scheren: Wilhelm II. war viel zu gut erzogen, um mit seinen Erfolgen bei Frauen zu prahlen.