

Das Manifest für den "Degrowth-Kommunismus"
Ulrich Brand in FALTER 37/2023 vom 15.09.2023 (S. 19)
Dass der Kapitalismus sich in einer Vielfachkrise befindet und insbesondere die Klimakrise kaum lösbar scheint, hat sich herumgesprochen. Und doch bleiben die politischen Initiativen, der existenziellen Bedrohung der Menschheit beizukommen, meist zaghaft. Der japanische Wissenschaftler Kohei Saito, Professor an der Universität Tokio, greift mit einem originellen Buch in die Debatte um die Reichweite von Klimapolitik ein. In seinem Heimatland hat sich der Band schon 500.000 Mal verkauft und ist auf dem Weg, ein globaler Bestseller zu werden.
"Systemsturz" ist der provokante Titel der gerade erschienenen deutschen Übersetzung. Der Autor fordert nichts anderes als einen "Degrowth-Kommunismus" und macht dafür konkrete Vorschläge.
Saito startet mit einer scharfen Kritik an jenen Strategien gegen die Klimakrise, welche die expansiven Dynamiken unseres Wirtschaftssystems nicht infrage stellen: "grünes" Wachstum, grüner Keynesianismus oder ökologischer Konsum. Er räumt mit dem Mythos der "Entkopplung" von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch auf und nimmt -das kommt nicht oft vor in dieser Art von Büchern -immer wieder die konkreten Auswirkungen der ökologischen Raserei der Industrieländer auf den globalen Süden in den Blick.
Degrowth, übersetzt als "Post-Wachstum", heißt vor allem: raus aus dem Wachstumswahn und Umbau einer Gesellschaft - Sozialsysteme, Arbeitsplätze, Investitionen -, die vom immerwährenden Wachstum abhängig ist.
Brillant ist das Kapitel "Marx im Anthropozän". Saito zeigte vor einigen Jahren in seiner viel beachteten Dissertation, dass Karl Marx sich in seinen letzten 15 Lebensjahren intensiv mit der ökologischen Krise befasste. Er publizierte seine Überlegungen kaum, hat aber umfangreiche Notizhefte angelegt, insbesondere zur Krise der Landwirtschaft.
Saito argumentiert überzeugend, dass der "späte" Marx sich der Probleme des industriellen Produktivismus sehr bewusst war. Die Alternative zum Kapitalismus sah er immer weniger in der Revolution des Industrieproletariats, sondern in den Dorfgemeinschaften, in denen gemeinschaftliche und nachhaltige Lebensformen vorherrschten. Hier wurden Lebensmittel gemeinschaftlich produziert und Saito gibt unter dem Begriff "commons" - Gemeinschaftsgüter -viele aktuelle Beispiel dafür.
Bei den "fünf Säulen des Degrowth-Kommunismus" unterstreicht der Autor die Notwendigkeit, mehr Gebrauchswerte herzustellen und nicht die am Profit orientierten Waren. Er möchte die systemrelevanten Berufe wie Pflege und Bildung aufgewertet sehen - und die für das Wohlergehen der Gesellschaft nutzlosen Jobs im Marketing und Finanzsektor weniger prestigereich und gut bezahlt. In der Arbeitszeitverkürzung sieht er einen Schlüssel für eine bessere Gesellschaft.
So weit, so von vielen vertreten. Doch Saito geht weiter und fordert eine Veränderung der bestehenden Arbeitsteilung, dass also nicht einige Menschen die "bullshit jobs" machen und andere die interessanten. Schließlich, so seine fünfte "Säule", müssten Produktionsprozesse demokratisiert werden -damit würden sie auch verlangsamt.
Im Kapitalismus schaffen die privaten Unternehmen vor allem Knappheit und produzieren das, was sich gut verkauft. Das geht notwendigerweise mit der Ausbeutung von Mensch und Natur bis hin zur Zerstörung einher.
Ein spannendes Argument Saitos lautet, dass wir neue Formen des Überflusses benötigen: nicht den Überfluss von Fast Fashion, schlechtem industriellem Essen und sinnlosem Entertainment, sondern Überfluss in einer entschleunigten Gesellschaft, in der Vertrauen, gegenseitige Hilfe, aber auch langlebige Gebrauchsgüter ein sicheres und sinnerfülltes Leben ermöglichen.
Der Staat spielt dabei eine wichtige Rolle, sollte aber nicht überschätzt werdendie Menschen müssen selbst aktiv werden. Der hier vertretene "Kommunismus" hat gar nichts mit den autoritär-bürokratischen Systemen des realen Sozialismus zu tun.
Saito hat ein lesenswertes Buch vorgelegt, das wichtige Impulse gibt. An manchen Stellen argumentiert er etwas schematisch, wenn "das Kapital" als Gegenüber "der Menschen" dargestellt wird. Als geschulter Marxist weiß er natürlich, dass das Kapital selbst die Menschen einbindet und vielen ein materiell auskömmliches Leben ermöglicht. Die Frage, wie andere und nichtzerstörerische Bedürfnisse entstehen können, lässt er außen vor. Auch die Tatsache, dass "der" globale Süden nicht nur ein Ort der Ausbeutung ist, sondern dass dort höchst ungleich gelebt wird, spielt keine Rolle.
Ein einziges Buch kann nicht alles bieten. Aber Saito hat schon viele Anregungen im Angebot.