

Seid verschlungen, Millionen
Julia Kospach in FALTER 12/2024 vom 20.03.2024 (S. 32)
Der letzte Kriegssommer 1944 ist heuer 80 Jahre her. Es ist der Sommer, in dem die 15-jährige Anne Frank nach zweieinhalb Jahren in einem Hinterhausversteck in der Amsterdamer Prinsengracht verraten und von der SS ins KZ Bergen-Belsen verschleppt wird. Im selben Sommer kehrt der französische Pilot Antoine de Saint-Exupéry nicht mehr von einem Aufklärungsflug zurück, und der junge Alfred Andersch, Obersoldat in der deutschen Infanterie, wirft während des deutschen Rückzugs seinen Karabiner in ein süditalienisches Getreidefeld und desertiert mit dem Ziel US-Kriegsgefangenschaft. Der 17-jährige jüdische Vollwaise Hans Rosenthal, der zum TV-Showmaster der Bundesrepublik werden sollte, betrachtet nachts aus seinem Versteck in einer Berliner Kleingartensiedlung die Kondensstreifen der alliierten Bomber, die Richtung Stadtzentrum über ihn hinwegziehen, als „Lichtzeichen aus einer besseren Welt“.
Während im Sommer 1944 in Paris schon die Befreiung begonnen hat, werden bis zum Ende der NS-Diktatur im Mai 1945 noch mehr Menschen sterben als in allen fünf Kriegsjahren davor. In diesen Monaten wendet sich der von Deutschland entfachte Weltkrieg an drei Fronten in Form alliierter Bomben, Invasionen und Schlachten endgültig gegen seinen Ausgangspunkt zurück. Das Nazi-Regime reagiert, indem es den „totalen Krieg“ und einen letzten, irren „Todeswalzer“ ausruft. „Todeswalzer“, so auch der Titel von Christian Bommarius’ meisterlichem Buch-Kaleidoskop über diesen großen, abschließenden Veitstanz des Zweiten Weltkriegs. In komplexem Rhythmus wechselt der Berliner Publizist, Jurist und Erzähler darin die Schauplätze und die erzählenden Personen und fügt Mosaiksteinchen um Mosaiksteinchen zu einem multiperspektivischen (Zeit-)Historienbild zusammen, dessen „Gleichzeitigkeit des Mordens und der Lebensfreude“ einen beim Lesen zunehmend mitnimmt.
Über die letzten zehn Kriegsmonate ist schon sehr viel geschrieben worden. Was an Bommarius’ Buch so beeindruckt, ist die Neuverwebung all dessen – der Dokumente und Tagebucheintragungen, der Reden- und Briefauszüge, der Gerichtsprotokolle, Propaganda- und Widerstandsstimmen, der Zeitzeugen- und Zeitungsberichte – zu einem mitreißenden Strudel an Kriegserleben. Bommarius erzählt buchstäblich hunderte Geschichten und tut das in solcher Plastizität, dass einem die Luft wegbleibt angesichts der Eskalation des Grauens und der Verdichtung von Ausnahmezuständen allerorten.
Denn im Sommer 1944 befiehlt Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels als neuer „Generalbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz“, sofort alle Kräfte der deutschen Gesellschaft – alt und jung, tauglich oder nicht – für den Fronteinsatz und die Kriegsindustrie freizusetzen. Deutschland wirft alles, was es noch hat, in den Dreifrontenkrieg gegen die Alliierten.
Die deutschen Schlachtniederlagen sind vernichtend, der Krieg ist schon seit einiger Zeit für alle sichtbar verloren. Doch umso lauter tobt die Propagandaschlacht der Nazis, umso wütender dreht sich die deutsche Mordmaschinerie gegen Partisanen, Zivilbevölkerung, Zwangsarbeiter und KZ-Deportierte.
Bommarius hat ein ganz besonderes Sensorium für die euphemistische, pathetische Sprache der Nazi-Diktatur und entlarvt sie, wo er nur kann. Wenn es in einem Befehl von SS-Reichsführer Heinrich Himmler heißt, es sei „für uns SS-Männer eine freudige Ehrenpflicht, dass wir auf dem Obersalzberg die Luftschutzräume erstellen dürfen“, höhnt Bommarius, dass die SS „die Erfüllung der freudigen Ehrenpflicht im Wesentlichen Fremdarbeitern überlassen“ habe. Und wenn Hitler im Sommer ’44 in großem Stil an den Fronten Generäle und Offiziere austauscht, um die vor der Kriegskatastrophe warnenden Stimmen unter ihnen nicht ans eigene Ohr dringen zu lassen, kommentiert Bommarius das so: „Die Ursache der desolaten Lage hat Hitler wie stets sofort erkannt: die Unfähigkeit der Generäle.“
Der entlarvte Diktator auf seinen verblendeten Irrwegen, der doch noch Millionen in den Untergang schickt: Während der Lektüre von Bommarius’ „Todeswalzer“ fährt einem der Schrecken dieser unfassbaren Wirklichkeit so richtig in die Glieder. Denn der Sommer 1944 war vor allem eines: der Auftakt zu einem Massensterben, bevor Nazi-Deutschland endlich kapitulieren wird. Bommarius: „Und bis zur Einsicht der Deutschen, dass der Untergang der Diktatur und das Ende des Krieges der Beginn ihrer Befreiung war, werden noch Jahrzehnte vergehen.“