

Zurück im geheimen Garten
Felice Gallé in FALTER 42/2024 vom 18.10.2024 (S. 44)
Dr. Jean Milburn ist Sexualtherapeutin. Ihr Witz ist trocken, ihre Sprache, wenn nötig, explizit. Für ihren pubertierenden Sohn Otis ist ihre professionelle Unverblümtheit Problem und Inspiration zugleich.
Die mit „Akte X“ berühmt gewordene amerikanisch-britische Schauspielerin Gillian Anderson verkörpert Dr. Milburn in der Netflix-Serie „Sex Education“ ebenso herzlich wie gnadenlos und immer glaubwürdig. Als Vorbereitung für die Rolle habe sie das Buch „My Secret Garden“ von Nancy Friday gelesen. Dabei sei die Neugier erwacht, was sich seither verändert hat, berichtet Anderson im Vorwort von „Want“.
1973 erschienen, stellte Fridays Sammlung sexueller Fantasien von Frauen einen Tabubruch dar. In Irland wurde das Buch verboten, weltweit avancierte es zu einem Meilenstein der Frauenbewegung. 50 Jahre später ist es ein cleverer Schachzug Andersons und des Bloomsbury Verlags, auf Personalisierung zu setzen: Gillian Andersons Name, ihr Gesicht, ihr Image und Charisma tragen das „Dear Gillian Project“. Dass dies Aufmerksamkeit und Verkaufszahlen steigern soll, kann man bekritteln. Muss man aber nicht. Schließlich gelingt es so, den Stimmen unbekannter Frauen Gehör zu verschaffen.
Fans von Gillian Anderson kommen mit „Want“, das zum New York Times-Bestseller wurde, jedenfalls auf ihre Rechnung. Im Vorwort und in den Einleitungen zu den 13 Kapiteln (mit Titeln wie „hart und bereit“, „angebetet werden“, „kink“ und „sicher und geborgen“) gibt die Schauspielerin wohlkalkuliert und -dosiert Einblicke in ihr Leben. Sie teilt Überlegungen zu Frausein, Sexualität und Gesellschaft und erzählt Anekdoten. Etwa, wie sie für ihre Darstellung der als Eiserne Lady bekannten britischen Premierministerin Margaret Thatcher in „The Crown“ nicht nur den Emmy und den Golden Globe erhielt, sondern auch unerwartet erotische Fanfiction. Dass Anderson selbst anonym eine Fantasie für „Want“ beigesteuert hat, lädt eventuell zum Rätseln ein.
Als Kuratorin hat Anderson aus 1000 Seiten Material Briefe zur Veröffentlichung ausgesucht. Anders als 1973 wurden Fantasien mit in der Realität illegalen Handlungen und rassistische Texte aussortiert.
Den Frauen stand ein eigens vom Verlag eingerichtetes Internetportal für das anonyme Hochladen ihrer Texte zur Verfügung. Die Auswahl soll zeigen, wie vielfältig Frauen und ihre Fantasien sind. Am Ende jedes Beitrags finden sich soziobiografische Notizen zu Nationalität, ethnischem Hintergrund, Religion, Jahreseinkommen, sexueller Orientierung, Beziehungsstatus und Kindern. Auch wenn diese Angaben wohl nicht überprüft wurden, die Autorinnen sind zweifellos international und divers. Und vermutlich sind unter ihnen viele Guardian-Leserinnen und Fans von Gillian Anderson.
Die Frauen beschreiben Sex im Büro, in der Straßenbahn oder auf einem Piratenschiff. Sex mit der Nachbarin und dem Schwager, mit tentakelbestückten Aliens oder dem eigenen Ich. Ihre Texte sind ebenso voll von Klischees wie von Überraschungen. Sie klingen vertraut, kurios, berührend. Manche Frauen erzählen (mehr oder weniger) erotische Geschichten, manche – und das sind die interessanteren Stellen – auch aus ihrem realen Leben. Einige reflektieren die Herausforderung, ihre Fantasien in Worte zu fassen, zu teilen oder auch sich selbst einzugestehen.
Immer wieder geht es um Scham. Frauen schämen sich für ihr Alter, ihre Brüste, ihre Schwangerschaftsstreifen. Weil sie „zu wenig“ sexuelle Erfahrung haben. Weil sie „zu oft“ Sex wollen.
Manche Texte könnten aus den 1970er-Jahren stammen, in anderen zeigt die Scham ein neues Gesicht. Dann geht es darum, ob die Fantasie vielleicht zu unoriginell, zu konservativ, „zu hetero“ sei. Einige Frauen stellen die bange Frage, warum sie als Feministinnen von Männern fantasieren, die sie demütigen und missbrauchen. Immer wieder wird Einvernehmlichkeit und Zustimmung beschworen, unabhängig davon, mit wem sich die Autorinnen Sex vorstellen und mit wie vielen. So findet sich etwa mitten in einer Gruppensex-Fantasie der Hinweis: „Sie genießen es ebenfalls, natürlich. Das ist mir wahnsinnig wichtig. Wir alle genießen es, niemand liefert eine Performance ab, niemand täuscht Lustgeräusche vor.“
In sozialen Medien werden Fantasien im Sekundenrhythmus angespült. Die Pornoindustrie ist milliardenschwer. Nach dem Bestseller „Fifty Shades of Grey“ boomt das von Autorinnen wie Colleen Hoover dominierte Spicy-Romance-Genre, also gerne auf Tiktok besprochene Liebesromane mit expliziten Sexszenen, geschrieben von Frauen für die Zielgruppe junger Frauen.
Der Garten ist längst nicht mehr geheim. Aber bunt ist er. „Want“ zeigt, wie vielfältig die Geschichten sind, die Frauen sich ausdenken, um Orgasmen zu erleben, dem Alltag zu entfliehen, sich begehrt und mächtig zu erleben, Trost zu finden, Spaß zu haben oder sich geborgen zu fühlen. Im allerkürzesten Text heißt es: „In meiner Fantasie liebt mich ein Mann für das, was mich ausmacht.“
„In der Welt der Imagination gibt es keinen Orgasm Gap“, spielt Anderson auf die Ergebnisse zahlreicher Studien an, dass Frauen in realen heterosexuellen Beziehungen viel seltener einen Orgasmus erleben als ihre Partner. Außerdem seien in Fantasien – anders als im Beziehungsalltag – keine Kompromisse nötig. Sie sind sichere Räume, in denen Grenzen überschritten werden können.
Dabei bleibt es wichtig, klar zu unterscheiden zwischen lustvollen Vorstellungen und tatsächlichen Wünschen für das echte (Sex-)Leben. Oder, wie eine Frau über ihre Fantasie schreibt: „Vor allem geht es um den Zahnarztstuhl, an dem ich festgeschnallt bin. Ich wüsste nicht, was das bedeutet, außerdem wäre ich superentsetzt, wenn mein Zahnarzt versuchen würde, mich zu ficken.“
„Want“ ist keine wissenschaftliche Studie und kein Ratgeber, nicht Pornografie und nicht Literatur. Gillian Anderson gibt am Beginn jedes Kapitels die charmante Moderatorin. Doch keine Psychologin, Soziologin oder Sexualwissenschaftlerin hilft, die Texte in einen größeren Kontext einzuordnen. Das Wort gehört den Expertinnen in eigener Sache.
Beim Lesen wird das vermutlich oft unbewusste Ringen der Frauen um eine eigene Sprache deutlich. Ist die Fantasie tatsächlich ein Land ohne Grenzen? Oder sind Gedanken nur in alten Liedtexten frei? Kann man im Patriarchat nicht-patriarchal geprägt schreiben oder Sex haben?
Sexualität ist politisch. Macht und Ohnmacht bleiben auch zwischen den rosa Buchdeckeln gesellschaftliche Tatsachen.