

Hallo, du kennst mich nicht, ich bin deine Halbschwester
Sebastian Fasthuber in FALTER 10/2022 vom 09.03.2022 (S. 34)
Wie die Begegnung im Detail verlaufen ist, kann die Erzählerin im Nachhinein nicht mehr rekonstruieren. Wie lang haben sie miteinander gesprochen? Welche Worte wurden gewechselt? Fiel sie der Fremden wirklich um den Hals? Wie haben die anderen Menschen im Raum darauf reagiert?
So viel steht fest: Vor ein paar Jahren, auf einer Lesereise im Dezember, legte ihr eine Frau ein Buch zum Signieren hin. Und sagte: "Wir haben übrigens denselben Vater." Mit dieser Szene beginnt die grandiose Autofiktion "Das Vorkommnis" von Julia Schoch (Jg. 1974). Die Begegnung sollte in ihr lang nachwirken, scheinbare Gewissheiten ins Wanken bringen und sie sogar bis an den Rand des Wahnsinns führen.
Das Buch kreist um ein Geheimnis, wie es sich in vielen Familien findet -gut gehütet, nur in vagen Andeutungen präsent. Dass es gelüftet wird, führt zunächst zu keinen großen Erschütterungen. Die Mutter wusste ohnehin davon. Es war passiert, kurz bevor sie den Vater kennenlernte - nur eine flüchtige Affäre, nicht mehr.
Auf die Erzählerin wirkt die Neuigkeit jedoch wie Gift, das sich langsam in ihr ausbreitet und sie dazu bringt, alles zu hinterfragen. Neben dem schon länger schwierigen Verhältnis zu ihrer großen Schwester vor allem die Beziehung zu ihrem Mann, die sie immer als große Liebesgeschichte gesehen hat. Wäre ihm so etwas nicht auch zuzutrauen?
Mit psychologischem Gespür und einer guten Dosis Selbstironie erkundet die in der DDR aufgewachsene Autorin die dunklen Seitenstraßen und schlecht einsehbaren Winkel, die sich neben der gepflegten Hauptallee einer Familiengeschichte auftun. In immer neuen Erinnerungsanläufen ergründet Schoch, wie genau man die anderen kennen und wie fremd man sich selbst werden kann.
"Das Vorkommnis" ist der Beginn einer auf drei Bände angelegten "Biographie einer Frau". Man würde gern sofort den nächste Teil dieser Trilogie lesen.