

„Manches einfach so lassen, wie es ist“
Kirstin Breitenfellner in FALTER 11/2022 vom 18.03.2022 (S. 29)
Wenn ein Mädchen Maserati heißt, scheint es naheliegend, es mit bösen Spitznamen zu bedenken. Caspar probiert alle Automarken durch, um die Aufmerksamkeit des Mädchens zu ergattern. Ferrari, Volkswagen, Toyota, Trabi et cetera. Der Jugendroman von Alina Bronsky unter dem Titel „Schallplattensommer“ spielt in einer Gegend, in der nicht viel los ist, wo es Birken ohne Ende gibt, im Herbst Pilze und im Winter Schnee und an den vielen Seen im Sommer eine Menge Sommergäste.
Maseratis Oma betreibt ein Gasthaus, das für seine gefüllten Teigtaschen bekannt ist. Da es so viel Arbeit gibt, verzichtet Maserati darauf, weiter in die Schule zu gehen.
In die bis dahin verfallene Villa nebenan zieht eine Familie mit zwei Burschen in Maseratis Alter. Einer der Burschen, Caspar, blond, gutaussehend und frech, schmeißt sich an die knapp 17-Jährige heran, der andere, Theo, dunkelhaarig und verdüstert, „eine nur auf den zweiten Blick hübsche traurige Mischung aus Dracula und Professor Snape“, interessiert sich ebenfalls für sie. Er trägt ein Geheimnis, das merkwürdigerweise etwas mit Maserati zu tun hat.
Und dann gibt es da noch Georg, einen taubstummen ehemaligen Klassenkameraden, der zupacken kann und mit dem sie angenehmerweise nicht viel reden muss.
Maserati ist eine typische Heldin der Autorin Alina Bronsky: spröde, unangepasst und schwer zu beeinflussen. „Wie immer, wenn ihr zum Heulen zumute war, musste Maserati lachen“, heißt es an einer Stelle. Auch ihr Gesicht fällt auf. „Sie war schon mit einer Elfe, einem Raubtier und einer Außerirdischen verglichen worden. Als sie noch mit Oma in der Stadt gelebt hatte, war sie dreimal in zwei Jahren auf der Straße zu Castings eingeladen worden.“
Familiengeheimnisse spielen die zweite tragende Rolle in Bronskys fein hingetupftem, spannendem Roman.
Die Autorin versteht es dabei meisterhaft, ihre Leser mit Andeutungen bei der Stange zu halten. Dass am Schluss nicht alle Geheimnisse aufgelöst werden, gehört zu den Stärken des Buchs. „Keiner muss irgendwas klären“, sagt Maserati zu Caspar. „Manches muss man einfach so lassen, wie es ist. Ungeklärt, mit Lücken. Was ist das für eine nervige Angewohnheit, alle Geheimnisse aufdecken zu müssen?“
Eines der Rätsel hängt mit der titelgebenden Schallplatte zusammen, auf deren Cover Theo Maserati zu erkennen meint. Aber wie kann das sein? Die beiden begeben sich unabhängig voneinander ins Internet und entdecken eine Verbindung zu Maseratis Mutter. Maserati sieht aus wie Lenchen, die in der Klatschpresse an den Pranger gestellt wurde.
Seitdem ist Oma krank im Kopf. Und Maserati gibt vor, kein Handy und keinen Internetanschluss zu haben.
Alina Bronsky, geboren 1978 in Swerdlowsk (heute: Jekaterinburg) in der damaligen Sowjetunion, legte bereits mit ihrem Erstling ein Jugendbuch vor, das die Kunst beherrscht, leicht über schwere Themen zu schreiben. „Scherbenpark“, erschienen 2008, wurde bereits 2010 für die Bühne adaptiert und 2011 auch verfilmt. Inzwischen gehört das Buch über die russischstämmige Sascha, deren Mutter von ihrem Stiefvater getötet wurde und die diesen
schon im ersten Satz des Romans ebenfalls umbringen möchte, zur Schullektüre.
Auch in „Schallplattensommer“ gelingt es ihr, über Themen wie Selbstmord, Medien, Mobbing, Demenz und soziale Ausgrenzung nonchalant und ohne Larmoyanz oder moralischen Zeigefinger zu schreiben. Bronsky tritt damit einmal mehr den Beweis an, dass Unterhaltung nicht seicht sein muss.