

Vom Schauspielstar zum Lesbenwender
Klaus Nüchtern in FALTER 10/2010 vom 12.03.2010 (S. 12)
Herrscht auf der Bühne tote Hose, geht im Bett die Post ab: Philip Roth macht in "Die Demütigung" einfach weiter wie bisher
Die Verführung von Lesben zu Hetero-Sex scheint das literarische Hobby der Saison zu sein: In Martin Suters Roman "Der Koch" helfen dem Protagonisten, einem tamilischen Asylanten, die aphrodisierenden Geheimrezepte der Omi dabei, die begehrte Kellnerin ins Bett zu kriegen; bei Philip Roth ist es möglicherweise die Aura des einst berühmten Schauspielers, die Simon Axler noch immer umgibt: "Dann führte er sie zum Sofa im Wohnzimmer, wo sie, unter seinem Blick heftig errötend, die Jeans auszog und zum ersten Mal seit dem College mit einem Mann schlief. Und er schlief zum ersten Mal in seinem Leben mit einer Lesbe."
Die Gesetze sexueller Wahrscheinlichkeit sind in Roths Werk im Grunde genommen aber ohnedies suspendiert: Wo man mit spontan angetragenem Oralsex ("Deine Möse lecken, Baby, wie wär's?") bei wildfremden Frauen Erfolg hat ("Portnoys Beschwerden"), wo man auf einem konservativen Midwest-College beim ersten Date – und wir reden hier von den 50er-Jahren! – ansatzlos einen geblasen kriegt ("Empörung") und wo Literaturprofessoren Affären mit Putzfrauen haben, die um 37 Jahre jünger sind ("Der menschliche Makel"), hört man irgendwann einmal auf, sich um kopulative Plausibilitäten zu kümmern. Leicht möglich, dass der Autor herausfinden will, was ihm die Leser noch alles durchgehen lassen.
Mit 65 beziehungsweise 40 Jahren sind Simon und Pegeen ein ganz normales Paar – jedenfalls für Roth'sche Verhältnisse. Dass die Welt der Affäre zwischen den beiden nicht gerade mit gelassener Akzeptanz gegenübersteht, versteht sich ebenfalls von selbst: Die Spannung zwischen dem anarchischen und egoistischen Begehren des Individuums und der normierenden Macht der Gesellschaft ist jene Kraft, die das Herz dieses Buches am Schlagen hält und das Blut in die Glieder und Genitalien der Protagonisten pumpt.
Dabei folgt Roth keineswegs einer plump vitalistischen Ideologie nach dem Schema: hier die Libido des Einzelnen, dort die kastrierende Kontrolle der Gemeinschaft. Er beobachtet lediglich mit nicht nachlassendem Interesse die Individuen dabei, wie sie ihr Streben nach Glück ("the pursuit of happiness"), das ihnen seit der Unabhängigkeitserklärung von 1776 zugestanden wird, auch gegen Widerstände durchzusetzen trachten.
In "Die Demütigung" (Originaltitel: "The Humbling") kommen diese zum einen von Pegeens desperater Ex ("Ist das Ihre Spezialiät: Lesben umpolen?"), zum anderen von deren Eltern, mit denen Simon seinerzeit zu allem Überfluss auch noch befreundet war. Und irgendwie kann man auch alle Beteiligten verstehen: den eben noch schwer depressiven Simon, der seiner schauspielerischen Fähigkeiten schlagartig verlustig ging; die gekränkte abgelegte Geliebte; die empörten und besorgten Eltern. Und Pegeen? Nun ja, die macht eben, was sich der Autor für sie ausgedacht hat – als der größte Frauenversteher der amerikanischen Nachkriegsliteratur wird Philip Roth jetzt auch nicht mehr durchgehen.
Das Ethos von Roths Romanen liegt denn auch woanders; es besteht darin, den (männlichen) Protagonisten in größtmöglicher Nähe zu folgen und die Erzählperspektive gerade in emotionalen Extremlagen ganz auf sie einzuengen; die Leser mit den getriebenen Helden zu konfrontieren, ohne uns durch Kommentare eines souveränen Erzählers oder andere Eingriffe und Kniffe moralische Tranquillanzien zu verabreichen.
Nein, der sedierende Tonfall des Therapeuten ist Roths Sache nicht. Ihm geht es nicht um Therapie, sondern um Tragödie. Und selbst in diesem schmalen Roman werden die Emotionen in Cinemascope projiziert. Von Tschechow weiß man, was mit einem Gewehr zu geschehen hat, das auf der Bühne rumsteht. Und Simon Axler hat seinerzeit Triumphe mit Tschechow gefeiert.