

Die Welt, durch die Augen eines Liberalen betrachtet
Michael Weiner in FALTER 38/2010 vom 24.09.2010 (S. 17)
Vom Sturz Miloevićs über Europas Islam bis zu São Paulos Favelas: Der brillante Politologe Timothy Garton Ash legt alte Texte neu auf
Zwittergewerbe zwischen Wissenschaft und Journalismus" – so nennt Timothy Garton Ash das Schreiben seiner analytischen Reportagen. In den Bibliotheken der Universitäten Oxford und Stanford arbeitet er sich in Regionen ein, die ihn interessieren, bereist sie ("trotz der neuen Technologien ist es immer noch am besten, vor Ort zu sein") und macht sich dort wie ein Reporter sein Bild. Daheim in Oxford und Stanford entstehen dann seine Texte, werden mit Kollegen und Studenten diskutiert und verfeinert und erscheinen in der New York Review of Books oder im Guardian. In "Jahrhundertwende" hat er eine Auswahl von Texten über die "Nullerjahre" aufgenommen.
Das Buch macht es einem nicht leicht: Es braucht einiges an Kraft, sich durch die 50 kaum zusammenhängenden Essays und Kommentare – die Themen reichen vom Sturz Slobodan MiloevicŽs über den Islam in Europa bis zu den Favelas von São Paulo – durchzuarbeiten. Garton Ash deutet selbst in der Einleitung an, dass Zeitungskommentare rasch veralten können. Dann die Sprache: Viele der Texte handeln von England und den USA und davon, wie Europa aus dieser Perspektive aussieht. Will man solche Texte in deutscher Übersetzung lesen? Und lässt sich die meisterhafte Sprache ins Deutsche übertragen?
Doch einige Geschichten sind so packend, dass sie all die Längen wieder vergessen lassen: Garton Ash erzählt etwa, wie er im Frühsommer 2001 mit einigen anderen Journalisten bei George W. Bush eingeladen war, um ihn auf seinen ersten Besuch in Europa vorzubereiten. Bush beurteilte die europäischen Länder offenbar nach seiner Sympathie für die amtierenden Regierungschefs. Und er äußerte Zweifel daran, ob er in sein Amt hineinwachsen würde. Die bizarre Natur dieser Begegnung wird in bedrückender Weise deutlich.
Bemerkenswert auch einige Beiträge zur
Stellung der Muslime in Europa, in denen er fordert, die öffentliche politische Auseinandersetzung über Religionsfreiheit klar von der privaten Auseinandersetzung um Überzeugungen hinsichtlich der Freiheit von oder Freiheit in der Religion zu trennen. An dieser Vermischung zwischen Säkularismus und Atheismus krankt aus seiner Sicht die Diskussion um den Islam. Und: "Wir Nichtmuslime müssen unsererseits klar unterscheiden zwischen unseren eigenen Wunschvorstellungen und dem, was eine freie Gesellschaft von den Muslimen verlangen kann. Wir mögen uns vielleicht wünschen, dass sie von ihrem unserer Ansicht nach rückständigen Irrglauben ablassen, Vernunft annehmen' und endlich auch modern, liberal und säkular werden. Doch in einer freien Gesellschaft darf das niemand von ihnen fordern."
Durch alle Texte zieht sich Garton Ashs Neugierde und sein Verständnis als "Liberaler". Als Minimalanforderungen für den Liberalismus des 21. Jahrhunderts nennt er Freiheit im Rahmen des Rechts, rechenschaftspflichtige Regierungen, Märkte, Toleranz, Individualismus und Univeralismus sowie eine Vorstellung von menschlicher Gleichheit, Vernunft und Fortschritt. Dass diese Prinzipien nicht einfach anzuwenden sind, zeigt sich in einem anderen Aufsatz, in dem er die Aufhebung des österreichischen Verbotsgesetzes und Freiheit für David Irving fordert – im allgemeinen europäischen Interesse und um von Islamisten und Türken die Abschaffung ihrer eigenen Tabus verlangen zu können.