

Jede Geschichte und Gasse der Sag-Harbor-Galaxie
Julia Zarbach in FALTER 10/2011 vom 09.03.2011 (S. 13)
In einem Coming-of-Age-Roman erzählt Colson Whitehead von der schwarzen Besiedlung der Ferienkolonien auf Long Island
Nicht nur die reichen weißen Kids aus New York City fahren auf Sommerfrische in die Hamptons: Sag Harbor, eine Kleinstadt am Ostende der Insel, ist mit ihren Vierteln wie Eastville oder Azurest die schwarze Urlaubsresidenz von Long Island, wo auch die Familie Cooper seit Generationen ihren Sommer verbringt.
In dem autobiografischen, nunmehr vierten Roman des New Yorkers Colson Whitehead schält sich sein 15-jähriges Alter Ego Benji im Sommer 1985 aus seiner engen Manhattaner Privatschuluniform: Das Strandhaus wartet darauf, entstaubt zu werden, und der schlaksige Teenie kann es kaum erwarten, mit seinen Ferienfreunden fernab von Regeln und Alltag abzuhängen. Immerhin gilt es, "neun Monate Rückstand in schwarzem Slang und diversen anderen Ausdrucksmitteln aufzuholen, die ich in meiner vorwiegend weißen' Privatschule verpasst hatte". Ein Slang, den die deutschsprachige Übersetzung trotz aller Bemühungen nur schwer transportieren kann und der zu einigen unauthentischen Passagen führt.
Wegen der kulturellen Übertragung bleibt in der deutschen Version von Whiteheads Roman auch sonst manches auf der Strecke: So ging schon der Originaltitel – schlicht und einfach "Sag Harbor"; hier inhaltlich fragwürdig mit "Der letzte Sommer auf Long Island" übersetzt – verloren, da dem hiesigen Leser der kleine Ort, der dem Amerikaner als Erholungsgebiet abseits des Hampton-Rummels bekannt ist, kein Begriff ist. Umso mehr erfährt der Leser im Buch über die "Sag-Harbor-Galaxie", von der Benji nicht nur jede Gasse, sondern auch jede dazugehörige Geschichte kennt.
Die Vergangenheit des einstigen Walfängerdorfs ist eng mit der afroamerikanischen Identität verknüpft. Wie bei den meisten "Sag-Harbor-Babies" – die saloppe Bezeichnung für Sommerfrischler, die seit jeher den Ort besuchen – kamen auch schon Benjis Großeltern hierher. Überlieferungen von der Ortsgründung bis zur Niederlassung seiner Vorfahren gehören quasi zu den Familienlegenden: "Bestimmt entschied sich jene erste Generation für die Sag Harbor Bay, weil die Südseite für sie verboten war – die Weißen besaßen die Küste, South Hampton, Bridgehampton, East Hampton. (
) Jene erste Generation kam aus Harlem, dem Brooklyn der Brownstones, aus den in Jersey gelegenen Binneninseln der schwarzen Community. Sie waren Ärzte, Anwälte, städtische Angestellte, Lehrer, und das zu Dutzenden."
Die Hautfarbe ist ständiger Subtext in Whitehead Roman und macht sich vor allem über einen Generationenkonflikt bemerkbar: Benjis Vater, der sich stark mit der Bürgerrechtsbewegung identifiziert und als Erster seiner Familie studieren durfte, versucht seinen Kindern ein afrozentristisches Bewusstsein einzuprügeln. Diese Identität der Alten hat jedoch nur noch wenig mit der Welt der Jugendlichen zu tun. Denn die Abgrenzung gegenüber den Weißen, egal ob es Strände, Wohngegenden, Kleidung, Musik oder Gewohnheiten betrifft, ist in Whiteheads Coming-of-Age-Geschichte für Benji und seine Freunde eher ein von außen aufgezwungenes Thema: "Schwarze Jungs mit Strandhäusern. Für Außenstehende ein Paradox, aber uns wäre es nie in den Sinn gekommen, dass daran etwas seltsam war."
Nach außen jedoch geben die Coopers "eine richtige Cosby-Familie" ab: "Der Vater Arzt, die Mutter Anwältin. Drei Kinder, alle auf Privatschulen, mit sauberen Fingernägeln und guten Manieren." Und auch sonst läuft in diesem Roman alles am Rande der Belanglosigkeit ab, was dem Buch nicht unbedingt zugute kommt. Zwar scheint es die Absicht des Autors gewesen zu sein, den typisch ereignislosen Pubertätsalltag seines Protagonisten zwischen Sommerjobs, Badetagen, dem erwachenden Interesse am anderen Geschlecht, 80er-Jahre-Style und gähnender Langeweile zu schildern, jedoch geschieht dies nur selten auf pointiert witzige und allzu oft auf langatmige Art und Weise. Wofür Whiteheads Buch allerdings vor allem stehen mag, ist das Selbstverständnis einer neuen afroamerikanischen Generation der Mittelschicht, die nicht mehr mit der Wut der Väter auf ihre Geschichte zurückblickt.