

Ein Papierkorb mit Abfall für einige
Claus Philipp in FALTER 41/2011 vom 14.10.2011 (S. 6)
Navid Kermani begibt sich mit "Dein Name" ausgiebig auf Selbstsuche und verliert an literarischer Form
Wollt ihr die totale Selbstbezüglichkeit? "Jein, jein, jein!", riefen sie, wie sie da vor ihren Laptops hockten und über ihren Texten und Kolumnen brüteten. Einer demolierte noch schnell für die Autorevue einen Lamborghini, bevor er zur nächsten Lesereise aufbrach, und sieh an: Der Lamborghini hatte eine neue Form gefunden, man hatte nur Gas geben müssen dafür, und wenn die Form auch keine ganz freiwillig hergestellte war, so war sie doch immer noch gut zu gebrauchen als, ja, Material.
Material, das ist es doch, was wir in Überfülle vorfinden, worin wir uns auch verirren, wir müssen scheinbar gar nicht mehr danach suchen, es überrollt uns. Aber wie das alles jetzt sortieren? Nein, wir schreiben hier nicht weiter über die Befindlichkeiten von Thomas Glavinic & Co. Aber irgendwie tauchte diese Assoziation auf bei der Lektüre von Navid Kermanis "Dein Name". "Nichts wird weggeworfen"; 1229 Seiten lang tritt Kermani hier zu einem Soloangriff unter einer Heerschar überforderter Zeitgenossen an.
"Es ist Donnerstag, der 8. Juni 2006", beginnt er seinen "Roman", "11:23 Uhr auf dem Laptop, der einige Minuten vorgeht, also 11:17 Uhr ungefähr oder, da er den Satz noch schreibt, 11:18 Uhr." Es wird noch mehrere solcher Zeitabgleichungen geben. Und jetzt aufs Gas getreten: Navid Kermani, der von sich vorläufig als "Er" spricht, entfaltet vor unserem inneren Auge gleich einmal den gnadenlosen Alltag eines Intellektuellen, dem, weil er gefragt ist und wird, in den Medien Kommentare zu Gesellschaft, Politik und Religion abverlangt werden – und der zu diesen Belieferungsmechanismen immer mehr auf Distanz geht.
Dahinter schaut's wie folgt aus: "Im Bad seines neuen Büros, das eine Wohnung werden könnte, läuft die Waschmaschine, die der Vater vorgestern repariert hat. Der Vater wird sich über die Nachricht freuen, dass die Waschmaschine nicht mehr leckt. Die Sonne scheint auf die frisch bepflanzten Blumentöpfe des Balkons, wiewohl Navid Kermani an den nackten Füßen noch friert. Der Schreibtischstuhl, den er als Student ohne Sitzbrett beim Trödelhändler gekauft, selbstständig erneuert und seitdem als einziges Mobiliar in alle seine Arbeitszimmer getragen hat, ist noch stabil genug, die Balkontür offen zu halten. Der Rücken, genau gesagt ein Nerv rechts neben dem Brustwirbel, erlegt ihm längst teure Gesundheitsmöbel auf. Später am Tag wird das Regal geliefert, dann bringt er seine Frau zum Arzt, die letzte Woche außerdem an der Achillessehne operiert worden ist, holt die Tochter von der Schule ab und geht, wenn noch Zeit ist, ins Museum, weil er für ein Benefizbuch über ein Gemälde nachdenken soll." Ein verdammt langes Zitat aus einem Buch, das doch wohl auch anderes und Bemerkenswerteres zu bieten haben könnte – möchte man meinen. Leider ist "Dein Name" mit über fünf Jahren Aufzeichnungsdauer (bis Mitte Juni 2011) aber auch einfach ein verdammt langes Buch. Und als solches ist es nicht unbedingt arm an derartigen Passagen, in denen das Profane und Alltägliche knallhart ins "neue Büro" drängen.
Klar also, dass es Kermani reizt, über diese Schwerkräfte (um sein Privatleben steht es insgesamt nicht zum Besten – auch das ein Impuls) und über die Zeilenschreiberei hinweg abzuheben und einmal wirklich mit der großen Literatenpranke auszuholen. So entsteht und entstand "Dein Name", bei dem der Dichter freilich schon nach
der Hälfte ahnt: "Wenn sich schon die
Romane, die er früher schrieb, nicht für die erste Liga qualifizieren, wie dann ein
Papierkorb ohne Handlung, Thema, Erzählstrategie und am schlimmsten: ohne Ende." Fazit: Mit diesem Buch hat Kermani keine Chance auf den Deutschen Buchpreis.
Das klingt als Selbstdiagnose ein bisschen eitel und kokett zugleich, an einer Stelle übrigens, wo der Autor in einer Passage über Jean Paul plötzlich zu Sätzen findet wie: "Um Jean Paul zu Füßen zu liegen, muss man ihn eine Weile verlassen haben, am besten aus Unmut oder Langeweile wie eine Frau." Als würde er im Lesen oder auch im Erinnern (etwa an die Lebensgeschichte seines persischen Großvaters) innehalten, gewinnen Kermanis Auslassungen vor allem im Schreiben über andere Form, während ihm im Umgang mit sich selbst die Zeilen und wohl auch die Verhältnisse nur so um die Ohren fliegen.
Das ist ein seltsames Missverhältnis, aber auch nicht ganz neu, wenn man sich zum Beispiel erinnert, wie zuletzt Rainald Goetz in seinem gelungenen Tagebuchprojekt "Abfall für alle" Rettung vor einem Überschuss an Ich nur in der bewussten Auslassung, Abkürzung, Fragmentierung fand. Später betitelte der Autor ein Buch über ein gescheitertes Projekt zum politischen Leben und seiner individuellen Perspektive auf dieselbe "Loslabern". Was im Übrigen der Kürze von Goetzens Text rein gar nicht entsprach.
"Loslabern": Im Gegensatz zu Rainald Goetz zieht Kermani dieses Programm durch. So werden zum Beispiel quer durch den Text Nachrufe und Erinnerungen an Freunde und Künstler verteilt, die dem Autor wichtig sind. Da kann man etwa lesen: "Die CD, die ich gerade höre, hat mir György Ligeti geschenkt." Jetzt hätten sicher nicht wenige gerne eine CD, die ihnen Ligeti geschenkt hat. Aber Kermani, 43 Jahre alt, kriegt dann gleich einen stolzen Altherren-Tonfall in der Erinnerung an den prominenten Umgang.
Hier macht sich eine etwas biedere Betulichkeit breit, die höchstens unfreiwillig komisch ist: "Ich erlebte ihn im Wissenschaftskolleg als kleinen, lustigen Herrn mit weißen, etwas wilden Haaren, der über das übliche Maß hinaus liebenswert war." Ein aufmerksamer Lektor hätte solche Passagen wohl zumindest hinterfragt. Andererseits ist aber das enthemmte Drauflosschwadronieren Grundvoraussetzung für dieses Buch.
Man muss Navid Kermani zugutehalten: Die Erwartungen waren sehr hoch, als man in Vorankündigungen von diesem Projekt hörte. "Dein Name' ist ein Roman, der das Privateste ebenso in den Blick nimmt wie die Geschichte, in der wir leben – ein Buch, das unser Bild der Gegenwart nachhaltig verändern wird", kündigte der Hanser Verlag das Buch süffig an.
Nicht zuletzt wegen einiger wirklich exemplarischer Essays, darunter ein schönes Buch über Neil Young, und seiner Zeitungskommentare verdient der deutsch-iranische Autor und Muslim jeden Respekt. Und dass man ihm aufgrund seiner scharfsinnigen Betrachtungen zur christlichen Ikonografie den Hessischen Kulturpreis nicht hatte geben wollen, verringert nicht gerade die Sympathie für einen, der in "belasteten" Zeiten intelligent der Falle entgeht, der Vorzeigeintellektuelle mit muslimischem Background zu werden.
Mit Kermanis sehr spezieller Biografie und Disposition könnte ein Bildungsroman unserer Tage interessant werden. Davon zu erzählen, in welchen Spannungsverhältnissen heute so etwas wie gesellschaftliche Analyse und also auch Handlungsspielraum sich zu entwickeln hat – daran arbeiten sich derzeit praktisch alle ab, vor ihren blinkenden Laptops, in Notaten, Kolumnen, launigen Prosatexten. Oft leiden diese Texte dann, siehe den kaputten Lamborghini, unter einem gewissen Beschleunigungssyndrom, weil die Leute ja meistens auch noch Geld verdienen müssen. Aber woraus schöpfen bei diesem Schweinetempo? Material!
Man könnte das Buch bei allem Ennui, den es fortwährend hervorruft, als einen Versuch beschreiben, sich einmal diesem Tempo hinzugeben und sehr bewusst alle Beschädigungen, die es mit sich bringt, in Kauf zu nehmen. Unreine Literatur: Das wäre ein netter Gedanke, wenn es nicht ohnehin derartig viel Temposchreiberei gäbe, die unbedarft und unbedacht diese Testergebnisse quasi nebenher zeitigt. So denkt man, und legt diesen Wälzer beiseite, den man ehrlich gesagt nicht vollständig gelesen hat, sondern vorwärts und rückwärts, in größeren und kleineren Portionen. Wie manch schwächeres Tagebuch.
Vielleicht muss man dieses Buch, so wie Kermani über Jean Paul schwärmt, des Öfteren verlassen, um dann wieder achtenswerte Momente oder zumindest dokumentarische Informationen von Relevanz in ihm zu entdecken. Leicht wird einem dies aber nicht gemacht von einem Autor, dem offenbar auch einiges schwerfällt.