

Der Gangster als Saubermann: das neue Gesicht der Mafia
Franz Kössler in FALTER 17/2012 vom 27.04.2012 (S. 20)
Der im Untergrund lebende Schriftsteller Roberto Saviano beschreibt, wie die organisierte Kriminalität die Wirtschaft unterwandert
Lange war die Mafia, auch durch ihre verkitschte Darstellung in den Hollywoodfilmen, von einer mystischen Aura umgeben. Sie galt als romantisches Erbe der Geschichte Siziliens, mit atavistischen Ritualen, geheimen Hierarchien und einem prickelnden Hang zu Schutzgelderpressung, Wucher, Mord und Blutrache.
Spätestens seit der Finanzkrise weiß man, dass die Mafia auch eine moderne Struktur ist, die sich als stärkerer Bruder der Korruption in ganz Europa ausbreitet und eine bedeutende ökonomische Rolle spielt.
Als der Chef der Europäischen Zentralbank Mario Draghi noch Gouverneur der italienischen Nationalbank war, warnte er bereits vor dem wachsenden Einfluss der finanzstarken Mafia in Zeiten der Finanzkrise, in denen Unternehmen verzweifelt nach Kapitalgebern suchen. Die Warnung ist umso aktueller, als jetzt ganze Staaten auf der Suche nach Milliarden sind, die die Mafia aus dem Fundus ihrer Reserven aus dem lukrativen Handel mit Kokain gerne zur Verfügung stellt.
Eine Studie der führenden italienischen Wirtschaftsuniversität Bocconi, aus der auch Regierungschef Mario Monti kommt, quantifiziert das ökonomische Gewicht der Mafia mit mehr als zehn Prozent der Wirtschaftsleistung Italiens, der drittstärksten Volkswirtschaft der Eurozone.
Komm, hau mit mir ab
Niemand hat vor dieser gefährlichen Modernität der Mafia so eindringlich gewarnt wie Roberto Saviano. Der 32-jährige Autor ist in einer Hochburg des neapolitanischen Mafiazweigs Camorra aufgewachsen und hat dessen Innenleben in seinem dokumentarischen Roman "Gomorrha" im Detail, mit Vor- und Nachnamen der Clanchefs, beschrieben.
Das Buch wurde in 52 Ländern mehr als zehn Millionen Mal verkauft. Seit sechs Jahren lebt Saviano nun versteckt, beschützt von Leibwächtern der Polizei. Bei seinen öffentlichen Auftritten steht er im Rampenlicht der Medien, was ihm zuweilen einen irritierenden Glamour verleiht.
Im vergangenen Jahr konnte Saviano nach langem Tauziehen vier Abende im staatlichen Fernsehen gestalten, mit dem Titel: "Vieni via con me", was in etwa bedeutet: Komm, hau ab mit mir. Provokant verwandelte er das Fernsehen in dessen Gegenteil. Es gab kaum etwas zu sehen, es wurde erzählt und rezitiert, Saviano hielt lange Monologe über Moral und Verbrechen, erzählte Geschichten italienischer Familien, seine prominenten Gäste verlasen Listen mit Stichworten zur Situation der Zeit, seriös und oft etwas pathetisch.
Überraschend traf er damit in Zeiten Berlusconis das Bedürfnis vieler Italiener nach intellektueller Ernsthaftigkeit und erzielte Rekordreichweiten, mehr als zehn Millionen Zuschauer folgten seinem Programm. Die Sendung wurde abgesetzt, aus politischen Gründen. Aus ihren Texten entstand Savianos neues Buch "Der Kampf geht weiter". Mit seiner gewohnten Präzision beschreibt er anhand des kalabrischen Flügels der Mafia, der den Namen 'Ndrangheta trägt, wie sich das verbrecherische Netz globalisiert hat.
Milliarden aus Drogengeschäften wurden etwa in die ehemalige DDR investiert, weitgehend unbemerkt. Erst seit der Ermordung von sechs Italienern durch ein Mafiakommando in Duisburg im August 2007 nehme die deutsche Polizei die Präsenz der Mafia in Deutschland wirklich ernst, klagte vor kurzem der Deutschlandbeauftragte der Anti-Mafia-Ermittler in einem Interview mit dem Corriere della Sera. Millionen, die in Immobilien, Restaurants oder Firmenbeteiligungen in Deutschland, Spanien oder Österreich fließen, sind nur durch eine aufwendige internationale Rückverfolgung ihrer Herkunft als Mafiagelder zu identifizieren.
Savianos Behauptung, die 'Ndrangheta habe sich längst auch in Norditalien eingenistet, wurde von der rechtspopulistischen Lega, die eine Trennung des "sauberen" Nordens vom "korrupten" Süden anstrebt, heftig bestritten. Die Mafia sei eine Struktur, die historisch gewachsen, der Natur Süditaliens angemessen und deshalb dort durchaus erhaltungswürdig sei – argumentierte mit rassistischem Unterton ein führender Politiker der Lega.
Die Realität hat ihn eingeholt: Am 24. März löste die Regierung 17 Gemeinderäte auf, weil sie von der Mafia unterwandert waren, von Sizilien bis in die nördliche Provinz Turin. Die Lega Nord selbst befindet sich seit Ostern in einem Korruptionsskandal. Unter anderem hat die Partei Millionen Euro Schwarzgeld nach Tansania transferiert, mithilfe der 'Ndrangheta.
Jobs gibt es nur bei der Mafia
Aus nächster Nähe beschreibt Saviano die Verwurzelung der Organisation in der sozialen Realität Süditaliens, wo nur die Mafia, nicht der Staat, eine Perspektive bieten kann.
Noch immer durchlaufen viele Jugendliche die Probezeit als Kleinkriminelle. Dann folgt, nach einem Auftragsmord als Loyalitätsbeweis, die religiös verbrämte rituelle Aufnahme in die "ehrenwerte Gesellschaft". Wer einmal ein "Ehrenmann" ist, hat seine Geborgenheit und sein Einkommen, seinen Platz in der Organisation garantiert – zum Preis der absoluten Verschwiegenheit und Unterwerfung unter die Hierarchie. Regelverstoß oder Verrat werden mit dem Tod geahndet, die Leichen nach Möglichkeit spurlos in Salzsäure aufgelöst.
In einer beeindruckenden Reportage, die im Internet-TV Servizio Pubblico zu sehen ist, bestätigen viele Süditaliener vor laufender Kamera, dass nur die Mafia, nicht der Staat, es ihnen ermöglicht zu überleben. Ein Mafioso, der jetzt mit der Justiz kooperiert, sagt: "Erst wenn man nicht mehr zur Mafia gehen muss, um einen Job, einen Auftrag oder einen Kredit zu bekommen, wird die Mafia besiegt sein."