

Sein erotischer Geruch, seine Haptik und sein Knistern
Veronika Seyr in FALTER 11/2012 vom 16.03.2012 (S. 44)
Kulturgeschichte: Lothar Müller erzählt in "Weiße Magie" die 2000 Jahre alte Geschichte des Papiers – und der westlichen Kultur
Der Weg begann vor annähernd 2000 Jahren, und die Spur zieht sich von Peking nach Samarkand in Zentralasien, von Kairo und Bagdad nach Damaskus, und aus den nordafrikanischen Provinzen endlich ins Europa des 13. Jahrhunderts.
Nutzten die Chinesen neben Seide vor allem den Bast des Maulbeerbaumes, die Inder die Blätter von Palmengewächsen, so bevorzugten die Ägypter Papyrusstauden, die an den ruhigen Ufern des Nils reichlich wuchsen. Im "Haus der Weisheit" des Bagdad zwischen dem achten und neunten Jahrhundert verfeinerte man die Papierproduktion durch Flachs und Hanf.
Papiergeschäfte zur Zeit des bildungssüchtigen Sultan Harun El-Rashid waren nicht einfach Krämerläden, sondern wissenschaftliche Zentren, die von Gelehrten und Schriftstellern geführt wurden. Marco Polo bewunderte in seinen Reiseaufzeichnungen aus China 1298 das ihm unbekannte, dort weitverbreitete Papiergeld, vor dessen Hyperinflation von 100 Prozent er die Europäer aber warnte.
Papier war im Osten so hoch entwickelt und geschätzt, dass die Krönungskleider der Tang-Kaiser nicht etwa aus Seide, sondern aus Papier waren. So wie man bis heute als Japanreisender Papier als Baustoff, etwa in Form von Reispapierwänden in den Häusern, bewundern kann.
Das mittelalterliche Europa setzte zuerst auf bearbeitete Tierhäute, das Pergament, auf dem praktisch alle schriftlichen Aufzeichnungen von Klosterbüchern über Kodizes bis hin zu Kaiserbullen eingeritzt waren. Pergament stellte sich allerdings als viel zu teuer heraus, die Ausbeute war gering, seine Widerstandskraft und Dauerhaftigkeit ungenügend.
Europa, vor allem die Region zwischen den Niederlanden und Süddeutschland, machte sich auf die Suche nach einer neuen Technologie, bis Ende des 13. Jahrhunderts die wassergetriebenen Papiermühlen den Arbeitsprozess revolutionierten. Jetzt waren es Leinen, Lumpen und andere Stoffe, die gerissen, gestampft, gewalzt, mit Pottasche oder Kalk versetzt und mit Wasserzeichen versehen wurden. Aus den Butten wurde das Bütten geschöpft, gerade rechtzeitig für Gutenbergs Erfindung der Druckerpresse um das Jahr 1440.
Der Berliner Literaturwissenschaftler Lothar Müller führt durch die verzweigten Wege der Papierherstellung und damit durch die Herausbildung der modernen westlichen Zivilisation. Viel Überraschendes hat der Autor zu bieten. Die erste neuzeitliche Krise etwa entstand nicht aus Rohstoffknappheit oder Geldmangel, sondern aus der neu entstandenen, aus dem Orient importierten Sucht nach dem Kartenspiel.
Zeitungen als Informationsmedien entwickelten sich aus losen Flugblättern. Um 1700 führte der Mangel an Lumpen bzw. das gestiegene Aufkommen an Druckerzeugungen zur Suche nach Alternativen. Europaweit experimentierten Chemiker mit neuen Faserstoffen ohne Lumpen. Schon damals boten sich die Vorbilder aus der Natur an, etwa die papierenen Nester der amerikanischen Wespen. Von da war es nicht mehr allzu weit zur Holz- bzw. Celluloseverarbeitung, die sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts durchsetzte. Heute sind es 95 Prozent der Weltpapierproduktion, die aus der Holzverarbeitung stammen, davon rund 50 Prozent recyceltes Altpapier.
Der französische Dichter Paul Valéry stellte vor mehr als 80 Jahren die bange Frage, was aus unserem geistigen Erbe würde, wenn das Papier von einer Mikrobe angegriffen und vernichtet würde. Und der Dramatiker Botho Strauß sinnierte erst kürzlich "über das Virus, das mit einem Schlag sämtliche elektronischen Speicher leert, von denen das jetzige Leben auf unserer Erde abhängt. Wohin uns retten vor der Bedrohung durch das elektronisch allmächtige Virus?"
Landkarte gegen GPS, Papiergeld gegen Plastikkarte, Buch gegen E-Book. Telegramme gibt es nicht mehr, Briefe sterben aus, und immer mehr Menschen kommunizieren via SMS, Twitter, Skype oder Facebook. Aber der Autor stellt fest: Wir leben immer noch in der Epoche des Papiers. Der erotische Geruch des Papiers, seine Haptik, sein Rascheln, sein Knistern haben es überleben lassen – bis jetzt zumindest.