

Dumm ist der Mensch, und öd ist die Provinz
Klaus Nüchtern in FALTER 18/2013 vom 03.05.2013 (S. 31)
Einer der ungemütlichsten Romane der Weltliteratur wurde zum 28. Mal ins Deutsche übersetzt: "Madame Bovary"
Wer Flaubert gelesen und sich dabei seinen Glauben an das Gute im Menschen bewahrt hat, muss schon ein ziemlich hartnäckiger Philanthrop, ein veritabler Trottel oder beides sein. Unter allen großen Romanciers (nicht nur) des 19. Jahrhunderts ist er einer der ungemütlichsten. Die "systematische Härte des Verfassers", die schon dem um einige Monate älteren Charles Baudelaire an "Madame Bovary" aufgefallen war, ist ein Grund für die Modernität Flauberts.
Dass der 1856 in der Revue de Paris vorabgedruckte und ein Jahr später in Buchform erschienene Roman einen Prozess wegen "Verstoßes gegen die öffentliche und religiöse Moral sowie gegen die Sittlichkeit" zur Folge hatte (aus dem die Beschuldigten straffrei hervorgingen), ist ein apartes literaturhistorisches Faktum, mit der Abgeklärtheit der Nachgeborenen aber kaum noch nachvollziehbar.
Über die skandalöse Ungerührtheit, mit der Flaubert als gleichsam "objektiver" Erzähler darauf verzichtet haben soll, das ehebrecherische Verhalten seiner Protagonistin zu verurteilen, vermag sich heute niemand mehr zu ereifern.
Flauberts vielbeschworene impassibilité ist darüber hinaus ein Mythos. Denn obgleich sich der Erzähler seinen Figuren und deren Idiom immer wieder mimetisch anschmiegt, lugt andernorts der Autor nur allzu deutlich hinter seinen Geschöpfen hervor.
Kann der despektierliche Blick auf den tumben Charles Bovary, dessen Gehrock "die ganze Plattheit seines Wesens" enthüllt, noch Emma zugeschrieben werden, so sind andere Passagen ganz unverstellt auktoriale Kommentare. Als Emma während eines Festes auf dem Schloss des Marquis d'Andervillies erstmals die giftige Sehnsucht nach einem anderen, in jeder Hinsicht reicheren Leben inhaliert, da streift der illusionslose Blick des Autors mit unverhohlener Verachtung über die versammelte Gesellschaft:
"Die schon Angejahrten wirkten jung, dagegen lag etwas Reifes auf den Gesichtern der Jungen. In ihren gleichgültigen Blicken schimmerte die Ruhe täglich gestillter Leidenschaften; und aus ihren sanften Manieren sprach jene besondere Brutalität, die das Beherrschen halbleichter Dinge verleiht, in denen die Kraft geübt wird und die Eitelkeit sich amüsiert, der Umgang mit Rassepferden und die Gesellschaft gefallener Frauen."
Was heute noch (oder wieder) irritiert, ist weniger die Amoralität als die ästhetische Angestrengtheit der "Madame Bovary". Viereinhalb Jahre lang hat Flaubert fluchend ab den frühesten Morgenstunden an seinem Roman gearbeitet, hat sich seine Sätze zwecks Überprüfung der rhythmischen Triftigkeit unter freiem Himmel vorgebrüllt – zur verständlichen Verstörtheit ahnungsloser Passanten.
Nichts an "Madame Bovary" ist leichtfüßig oder beiläufig, niemals versucht der Roman so zu tun, als wäre er keiner. In seiner kalkulierten Künstlichkeit hat er etwas geradezu Hysterisches – worin der Autor seiner Protagonistin ähnelt, auch wenn der vielzitierte Satz "Madame Bovary, c'est moi!" nicht glaubhaft belegt ist. Die vielgepriesene Übersetzung Elisabeth Edls folgt dieser Angestrengtheit bis in die Syntax und Wortstellung – der Hochmut, mit dem Edl den 27 vorangegangenen Übersetzungen samt und sonders attestiert, Flaubert "ganz und gar" verfehlt zu haben, bleibt dennoch unschön.
Die virtuose "Landschaftsmalerei", die gnadenlose Detailversessenheit, mit der Flaubert Interieurs oder die Garderobe seiner Figuren beschreibt, hat auch etwas angeberisch Klassenbestenhaftes, das schon an den Nerven des Lesers zerren kann. "Aus Hass gegen den Realismus", so gestand Flaubert in einem Brief, habe er "Madame Bovary" begonnen. Zugleich legt ihm der Realismus des Milieus und des Sujets die Pflicht auf, "die ewige Monotonie der Leidenschaft, welche stets die gleichen Formen hat und die gleiche Sprache", nicht nur zu benennen, sondern vorzuführen.
Flaubert hat sich seinen Roman angetan, und er tut ihn seinen Lesern an. Also müssen wir uns nicht nur durch das "kunstsinnige" Geschwätz von Emma und ihrem ersten Verehrer Léon lesen, sondern werden auch ständig mit den "aufgeklärten" Tiraden des bornierten Apothekers Homais behelligt, den Flaubert von allen seinen Figuren wohl am tiefsten verachtet hat.
Wo man anderswo mit den Helden und Heroinen mitfiebern oder um sie bangen kann, da bleibt einem in "Madame Bovary" wenig anderes, als das über diese verhängte Schicksal zur Kenntnis zu nehmen. Spannung? Pfff! Dass die Sache schlecht ausgehen wird, ahnt man sehr bald. Sympathie? Pah! Im besten Falle empfindet man Mitleid – mit Emma, deren durch schlechte Romane befeuerte Gier nach Leben und Leidenschaft sie zunächst in die Schuldenspirale und dann in den Suizid treibt; und Mitleid mit dem arglosen Charles, der die Hörner, die ihm seine Frau aufsetzt, noch nicht einmal bemerkt, als sie ihm schon Girlanden um diese windet.
Hinter dem hochgetunten Hass, den Flaubert ästhetisch raffiniert, um ihn über Landschaft und Leute auszukübeln, lässt sich freilich auch eine Haltung ausmachen, die nicht geradewegs in die Misanthropie führt. Es ist diejenige eines Arztes, der seinen kühlen analytischen Blick einsetzt, um die Leiden seiner Mitmenschen zu lindern.
Doktor Larivière, den der Arztsohn Flaubert ein wenig seinem Vater nachgebildet hat, ist die einzige rundum positive Figur des Romans: "Er verachtete Kreuze, Titel und Akademien, war gastfrei, liberal, väterlich zu den Armen und ging den Pfad der Tugend, ohne an sie zu glauben (
)."
Aber selbst Larivière kann für die arme Emma nichts mehr tun und ihrem Gatten nur raten: "Mut, mein armer Junge, reißen Sie sich zusammen! Da ist nichts mehr zu machen."