

Pandämonium von Mord und Totschlag
Erich Klein in FALTER 41/2014 vom 10.10.2014 (S. 28)
Die Erzählungen des jüdisch-russischen Intellektuellen und Erfolgsautors Isaak Babel sind neu zu entdecken
Die Titelgeschichte der bislang umfangreichsten Ausgabe von Erzählungen des russischen Schriftstellers Isaak Babel (1894–1940) in deutscher Übersetzung beginnt mit einer idyllischen Erinnerung: "In meiner Kindheit wollte ich unbedingt einen Taubenschlag."
Knappe zehn Seiten später verwandelt sich der autobiografische Hymnus an Odessa, die "Perle am Schwarzen Meer", einst drittgrößte Stadt des Zarenreiches, mit ihren Rabbinern, Fischhändlern und Steuerinspektoren, in ein Pandämonium von Mord und Totschlag. Die jüdische Familie des Erzählers flieht während des berüchtigten Pogroms von 1905 aus der Stadt.
Als "Die Geschichte meines Taubenschlages" 1925 erschien, war Isaak Babel fast am Höhepunkt seines Ruhmes angelangt. Der Sohn eines jüdischen Händlers aus der Moldowanka hatte wider alle Quotenregelung des Zarenreiches, die Juden nur beschränkten Zugang zu Schule und Universität gewährte, sein Studium in Kiew beendet und mehrere Fremdsprachen erlernt. Als er 1916 in die Hauptstadt Petrograd übersiedelte, erkannte Maxim Gorki, Literaturpapst des heraufziehenden Sozialismus, sogleich sein Talent.
Babels Reportagen über das Revolutionsjahr 1917/18 waren rigorosem Naturalismus verpflichtet und machten zugleich den apokalyptischen Schrecken, den der bolschewistische Umsturz mit sich brachte, deutlich: "Der Newskij Prospekt floss als Milchstraße in die Ferne. Pferdekadaver markierten ihn wie Werstpfähle. Mit erhobenen Beinen stützten die Pferde den gefallenen Himmel." Der Kritiker Wiktor Schklowskij sagte über den Stil von Isaak Babel, den er für "den Besten" unter den jungen Sowjetautoren hielt: "Er schreibt mit ein und derselben Stimme über die Sterne und den Tripper."
Es war die Kombination von Überschwang und Körperlichkeit, von symbolischer Andeutung und Sinnlichkeit der "Erzählungen aus Odessa", die Babels legendenartigen Geschichten über Gauner, Taschendiebe, Schwarzmarkthändler und Huren zu dauernder Beliebtheit bei seinen russischen Lesern verhalf. Der Mythos Odessa geht wesentlich auf Isaak Babels Konto, der auch über das dafür nötige sprachliche Kolorit verfügte: "Die Aristokraten der Moldowanka waren in himbeerrote Westen gezwängt, fuchsbraune Jacketts umspannten ihre Schulter und an den fleischigen Beinen krachte Leder von der Farbe des Himmelsazurs."
Dass Babel von diesem Gangster-Dandytum nahtlos zur Hymne an die Tscheka übergeht – den KGB-Vorläufer, der in seinen Kellern Regimegegner folterte, mordete und dem auch Babel selbst eine Zeitlang angehörte –, steht auf einem anderen Blatt. Die international größte Popularität erlangte er 1926 mit dem meisterhaften Erzählband "Die Reiterarmee". Als Korrespondent der Russischen Telegraphenagentur erlebte der jüdische Intellektuelle im russisch-polnischen Krieg des Jahres 1920 aus nächster Nähe Gemetzel und Marodieren der Roten Reiterarmee auf ihrem Plünderungszug durch Wolhynien und Ostgalizien.
Geschichten über fromme Rabbiner wechseln sich mit solchen über MG-Schützen ab, Vergewaltigungsszenen stehen neben alttestamentarischer Bescheidenheit und üblichem Männlichkeitskult in Zeiten des Krieges. Eher mit süffisanter Lässigkeit denn mit Entsetzen beschreibt Babel die Ermordung einer ertappten Schmugglerin: "Nimm sie mit der Flinte. (
) Und ich holte die Flinte von der Wand und wusch diese Schande vom Angesicht der werktätigen Erde und Republik."
"Mein Taubenschlag" enthält über die bekannten Babel-Klassiker hinaus auch jene Versuche an gescheiterter "Produktionsprosa" im Dienste des Sozialismus, die in der Zeit des Stalinismus entstanden. Während des Großen Terrors bewahrte Babel auch solch konformistisches Engagement nicht mehr vor Verhaftung wegen "Trotzkismus" und "antisowjetischer Tätigkeit".
Isaak Babel, der eigentlich zum sowjetischen Literaturestablishment mit eigenem Wohnhaus in der Schriftstellersiedlung Peredelkino gehörte, bat im Gefängnis, weiterschreiben zu dürfen. Im Jänner 1940 wurde er 46-jährig in der Moskauer Lubjanka erschossen.