

Untersuchungen an einer Wurstmaschine
Thomas Leitner in FALTER 41/2013 vom 11.10.2013 (S. 14)
Die Literaturwissenschaftlerin Inka Mülder-Bach zerlegt Musils "Mann ohne Eigenschaften" und fördert Erstaunliches zutage
Am 7. August war Ulrichstag: Denn mit der Schilderung eines Vorfalls zu diesem Datum im Jahre 1913 setzt Musils "Mann ohne Eigenschaften" ein – die neben dem "Ulysses" wohl imposanteste Konstruktion der Moderne in der Literatur.
Der Ulrichstag wird zwar nicht so ausgiebig gefeiert wie der Bloomsday am 16. Juni, doch immerhin: Anlässlich seiner 100. Wiederkehr ist ein "Versuch" über das Werk erschienen, so gewichtig und dicht, dass er es mit seinem Gegenstand durchaus aufnehmen kann.
Die Germanistin Inka Mülder-Bach, 1953 geboren, lehrt an der Universität München. Sie hat sich bisher vor allem als Interpretin und Herausgeberin von Siegfried Kracauer profiliert. Die Vorarbeiten zu der Gesamtdarstellung von Musils feingliedrigem, oft ehrfürchtig als "Foltermaschine" gepriesenem Monstrum erstreckten sich über 20 Jahre.
Ein Leichtes wäre es der Autorin gewesen, mit dem üblichen "Hinweis auf die Heiterkeit, den Übermut und den Humor seiner Sprache" zu einer Oberflächenlektüre einzuladen, die das Werk als literarisch-essayistische Enzyklopädie des 20. Jahrhunderts nimmt, und seine brillanten Wendungen und Bilder paraphrasiert. So ließe sich der Roman ja ohne große Tücken lesen, so hat es vielen schon halbwegs intelligenten Literaturkonsum erlaubt. Über den Charakter des "Mannes ohne Eigenschaften" als Werk der Avantgarde las man dabei aber oft allzu leichtfüßig hinweg: nämlich den Versuch, die Konstruktion einer Welt nachzuvollziehen, die zu einem undurchdringlichen "Gefilz von Kräften" (so Musil) geworden war.
An die Grenzen der Lesbarkeit dringt die Deutung dessen vor, was die Autorin als Musils Mikropoesie bezeichnet. Sie demonstriert, wie unter der scheinbar recht glatten Oberfläche der lose aneinandergereihten Kapitel eine "überstrukturierte und übermotivierte Konstruktion" liegt.
Mit intimer Kenntnis setzt Musil sich mit den avanciertesten Tendenzen der Wissenschaften seiner Zeit – der Sprach- und Erkenntnisphilosophie des Wiener Kreises, der modernen Physik, und der Gestaltpsychologie Köhlers – auseinander, deren gemeinsames Unterfangen eine tastende Orientierung in einer neuerdings als radikal unübersichtlich erlebten Welt war.
Mit ihnen verzettelt sich der Roman geradezu (alb-)traumhaft, findet nur durch feuilletonistische Einschleifungen zu einem Fortgang von Text und Handlung. Das daran empfundene Ungenügen führt dazu, dass sich der "MoE" in zahlreichen Schichten an der Form der literarischen Gestalt abarbeitet, letztendlich zur Unvollendbarkeit: Die Welt selbst war zu einer bloßen Abfolge von nur mehr mit dem Wörtchen "und" verbundenen Zuständen verkommen... Das unschätzbare Verdienst der Autorin liegt darin, in dieses Dickicht Lichtungen zu schlagen, in Mikrobereichen scharfsinnige Interdependenzen aufzuzeigen, Einblicke in Entstehungsgeschichte, Topologie und Dynamik des Textes zu gewähren. Man kann nicht umhin, sie bewundernd als hermeneutische Mitarbeiterin an dem zu sehen, was sie als das "faustische Projekt Musils" bezeichnet: die mühselige Kittung von partikularen Sinnzusammenhängen nach der großen Zertrümmerung eines Gesamten durch die Moderne.
Auch dem Leser und Kenner Musils wird – vor allem in den besonders akribischen Anfangskapiteln – Erhebliches an Anstrengung abverlangt; und manchmal schwindelt ihm vor all der schillernden Brillanz. Umso größer das Vergnügen an ebenso erhellenden wie erheiternden Sinnzusammenhängen, etwa dem Vergleich des großen, in seinem Anspruch geradezu "gefräßigen" Romans mit dem allzu gesegneten, alles verdauenden Appetit Leonas, einer von Ulrichs Musen.
Ulrich füttert sie so sehr mit ihren "geliebten Mischgerichten", dass es ihr ähnlich ergeht wie dem "MoE": Beide werden sie gefüttert – "so voll von vornehmen Sachen", dass er (sie) "kaum noch zusammenhält". Der Text wird dadurch, wie die Autorin schreibt, zur "Wurstmaschine". Ebenso schmackhaft wie bei der Verdauung hilfreich ist der "Senf", den sie dazu reicht...