

Der Schützengraben ist das Symbol der Moderne
Alfred Pfoser in FALTER 41/2014 vom 10.10.2014 (S. 51)
Geschichte: Philipp Blom hat schon wieder einen Wälzer verfasst – diesmal über die Zwischenkriegszeit von 1918 bis 1938
Gegen die populären Kulturgeschichten Philipp Bloms haben Rezensenten etliche Einwände vorgebracht: Sie fanden sie oberflächlich, echauffierten sich darüber, dass sie zu wenig originäre Forschung betreiben, sich in Anekdoten und Geschichten verlieren, in zu vielen Themenfächern wildern und zu mutig auf Thesen zugespitzt waren.
Umgekehrt umreißen diese Argumente genau die Stärken eines Autors, der immer aufs Ganze einer Epoche zielt, mit leidenschaftlicher Feder prägnante Bilder zeichnet und aussagekräftige Tableaus arrangiert. Blom bemüht sich, durch Anschaulichkeit seine Leser zu involvieren und bei aller Sprunghaftigkeit und allem Hang zum Abseitigen Kompaktheit zu erzielen.
Das gilt auch für sein neuestes Buch, eine Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit. "Die zerrissenen Jahre" scheuen sich nicht, mit einer starken These anzutreten und diese in chronologisch geordneten Essays aufzubereiten.
Die Studie über die brutale Ambivalenz der Moderne beginnt auf den Schlachtfeldern Flanderns.
Maschinengewehre, Giftgas, Stacheldraht, großkalibrige Artillerie mit bisher nicht gekannter Reichweite und Treffsicherheit, Flugzeuge und Panzer machen die involvierten Soldaten zum Beiwerk der Materialschlachten. Die Massen der Kriegszitterer irren schon bald als monströse Hinterlassenschaft des Krieges durch ihre Heimat.
"Die zerrissenen Jahre" ist in gewisser Hinsicht die Fortsetzung von Bloms Erfolgsbuch "Der taumelnde Kontinent" (2011), in dem er schildert, wie der Modernisierungsschub um 1900 die Menschen angesichts der Flut von Neuerungen verwegen, schwindlig oder nervös machte. Der Kriegsbeginn wurde von vielen Freiwilligen als Ausweg aus den Ambivalenzen und Verunsicherungen der Moderne gesehen. Dabei löste er eine beschleunigte Dynamisierung in der organisatorischen und technologischen Entwicklung aus, die die Verunsicherungen noch weiter vorantrieb.
Der Schützengraben ist das Symbol der Moderne. Längst ist für die einzelnen Soldaten jede Überschau, jeder Sinn verlorengegangen, tagelang harren sie in Öde und Schmutz aus, um ab und zu in den Horror ferngesteuerter Waffen zu geraten.
Für Blom ist es von der Schlacht an der Somme nicht weit zu den automatisierten Fabriken der 1920er-Jahre, in denen Menschen von Maschinen verschluckt werden und ihnen taylorisierte Unterordnung abverlangt wird. Charlie Chaplins "Modern Times" stellt die populärste cineastische Spielart dieser Albträume dar, im Bereich der Literatur ist es Aldous Huxleys "Schöne neue Welt". Auffallend viele Automaten und Roboter halten als Metaphern von bionischen Zwischenwesen Einzug in die populären Medien und vervollkommnen die Versprechungen, die die Prothesenindustrie während des Krieges gegeben hat.
In Filmen wie Fritz Langs "Metropolis" mutieren Arbeiter zu Ameisenwesen. Die eiserne Faust des Fortschritts befeuert die Hightech-Fantasien. Architekten, Mediziner und Soziologen beschäftigen sich mit der Optimierung von Arbeitsprozessen und der Standardisierung von Wohnungen.
Kapitalismus, Faschismus und Kommunismus wetteifern mit ihren Visionen von durchrationalisierten Lebenswelten, Städten und Fabriken.
Der Erste Weltkrieg gibt in Philipp Bloms Buch Rand- wie Leitthema ab. Seine Nachwirkungen sind beinahe in jedem Kapitel präsent. Bei Siegern und Verlierern sind die traumatischen Folgen, Millionen Tote und Verluste, zivilisatorischer Niedergang und Massenelend der Nährstoff für Depressionen – und explosive Lebensgier.
Aus dem Elend wachsen die Versprechungen von Ideologien, die einen Ausweg aus der Tristesse in die Vollkommenheit bieten und selbst die USA an den Rand des Bürgerkriegs bringen.
Das Buch schreitet in seinen mit feurigem Atem formulierten Essays ein weites Land ab, von der Schwarzen-Renaissance in Harlem bis zum stalinistischen Magnitogorsk im Ural, vom Justizpalastbrand in Wien bis zum Spanischen Bürgerkrieg, von den astronomischen Entdeckungen des Hubble-Teleskops bis zu den surrealistischen Träumen der Weltrevolution. Ein anregendes, fesselndes Panorama.