

Schluss mit lustig: Wie ein Trinker die große Liebe verabschiedet und das Glück findet
Sebastian Fasthuber in FALTER 52/2014-2/2015 vom 26.12.2014 (S. 35)
Stellen Sie sich vor, wie Sie ein Walnussbrot aufschneiden, einen provenzalischen Ziegenkäse aus dem Einschlagpapier nehmen, ein paar Muskattrauben dazulegen und sich einen kalifornischen Pinot Noir ins Glas gießen. Wie Sie das Glas zum Mund führen, das weiche Aroma einatmen, einen Schluck nehmen und kurz darauf spüren, wie jenes warme Gefühl der Entspannung durch Ihren Körper fließt."
Na? Genau. Fast jeder kennt dieses Gefühl. Für gar nicht so wenige beginnt mit solch genussvollen Momenten eine lange Liebesgeschichte. In den meisten Fällen verläuft sie alles andere als glücklich, sondern qualvoll. Sie sorgt für Depressionen und Aggressionen, vernichtet Beziehungen und findet bisweilen erst mit dem Tod des Alkoholabhängigen ihr Ende.
Der deutsche Journalist Daniel Schreiber war jahrelang in dieser Spur unterwegs – als einer, der dem Trinken zur Entspannung von Haus aus nicht abgeneigt war; bei dem es nie bei dem berühmten "Glas zum Essen" blieb; der eine Zeitlang mit einer halben Flasche Wein genug hatte, irgendwann aber bei einer Flasche und mehr gelandet war. Abend für Abend. Nur am Wochenende wurde es auch mal deutlich mehr.
Mit "Nüchtern" hat er ein kluges Buch über Alkoholismus und Nüchternheit geschrieben, das auf mehreren Ebenen funktioniert. Es lässt sich als persönliche Geschichte eines Trinkers lesen, der sich nach einer längeren Phase des Selbstbetrugs bewusst wird, dass sein Leben vom Trinken bestimmt wird. Einige Zeit nach dieser Erkenntnis schafft er es, trocken zu leben und glücklich zu werden.
Gleichzeitig ist das Buch eine pathosfreie Anklage des verdrehten gesellschaftlichen Umgangs mit Alkohol in Deutschland. Hierzulande gehört Trinken genauso zum guten Ton und der Nicht-Trinker wird eher schief angesehen. Weil er dem Trinker den Spaß verdirbt. Auch hier kommt wieder Selbstbetrug ins Spiel.
Alkoholiker ist man nie selbst, immer sind es die anderen. Praktischerweise kennt fast jeder jemanden, der noch mehr trinkt: "Das Eingeständnis, alkoholkrank zu sein, ist eines der letzten großen Tabus in unserem Land."
Die Medien tragen nicht zu einem ehrlicheren Umgang mit dem Thema bei. Daniel Schreiber wurde das klar, als er für die taz eine Kolumne übers Nicht-Trinken verfasste. Bei ihrem ersten Erscheinen teilte sie sich eine Seite mit einer Anzeige für die hauseigene Prosecco-Marke. Online wurden seine Texte mit Fotos von Sauforgien illustriert.
"Es gibt in Deutschland buchstäblich kein Bild von Nüchternheit", schließt er daraus. Mit seinem Buch hat er den ersten Pinselstrich gesetzt.