

Sie nannten ihn „wilder Philosoph am Klavier“
Armin Thurnher in FALTER 11/2018 vom 14.03.2018 (S. 44)
Musik, Sinn und Unsinn: Die Essays des Ausnahmepianisten Alfred Brendel gleichen einem filmisch montierten Scherzo
Alfred Brendel ist einer der größten Pianisten unserer Zeit. Man kann nicht sagen, er sei es gewesen, denn Größe vergeht nicht, auch wenn die Physis nicht mehr imstande ist, sie zu erweisen. Es gibt ja Tonträger. Im Alter von 78 Jahren setzte Brendel einen schon früher gefassten Entschluss in die Tat um. Ende 2008 trat er im Wiener Musikverein das letzte Mal als Pianist vor das Publikum.
Es war einer der bestbeweinten Abschiede in der Musikgeschichte. Brendel selbst empfand ihn als Befreiung. Er war entschlossen, sich fortan anderen Dingen zu widmen, die ihm wichtig erschienen. Kunst zu betrachten, über Musik zu schreiben, Vorträge zu halten, zu lehren, Streichquartette zu beraten.
Vielleicht braucht man als Musiker eine Disziplin, die anderen Kunstgattungen fehlt. Hier ist jedes Detail vergleichbar und am Notentext überprüfbar. Schwindeln ist nicht möglich, in Frage steht nur die Interpretation. An Brendel, dem Schriftsteller und Autor zahlreicher Bücher, kann man diese Disziplin nun ebenfalls beobachten, in Form von Genauigkeit, nobler Zurückhaltung und enormer Sachkenntnis. Das betrifft nicht nur seine Schriften zur Musik, sondern auch jene zu Kunst und Literatur.
Als Musiker hat Brendel stets darauf bestanden, den Willen des Komponisten auszudrücken, nicht den des Interpreten. Dieser zeige sich allenfalls darin, den Willen des Komponisten begründet darzustellen, nach kritischer Lektüre der Autographen und Erstdrucke. Wenn Brendel als Interpret originell erschien, dann gerade nicht aufgrund von Eindrücken, die er der Musik kraft seiner eigenen Originalität aufdrückte, sondern weil er besser als andere imstande war, der Musik selbst ihren Charakter abzulesen.
Brendels neues Buch „Die Dame aus Arezzo“ versammelt neben Essays des Autors und ausgesuchten Bild- und Tonbeispielen samt beigelegter CD auch Nonsens-Gedichte. Die Frage von Sinn und Unsinn, die ihn sein Leben lang beschäftigt, geht Brendel in einem eigenen Essay nach.
Das Thema der Originalität behandelt Brendel in einer großen, zuerst in der New York Review of Books erschienen Rezension von Ian Bostridges „Schuberts Winterreise“ von 2015. Brendel lobt Bostridges Text; die mitunter ungezügelte Assoziationslust des Autors und dessen Einschätzungen stellt er nur augenzwinkernd in Frage: „Einem Exkurs über Tränen und das Weinen entnehmen wir, dass Tränen, die gefühlvoll vergossen werden, 20 Prozent mehr Protein enthalten als jene, die das Zwiebelschneiden hervorruft.“
Über den Protagonisten der Winterreise sagt Brendel: „Ein Hysteriker? Ich sehe ihn eher als den ,Fremdling überall‘, einen Melancholiker unter dem Einfluss von Byron und Goethes ,Werther‘, geprägt von postnapoleonischer Enttäuschung – kein Verrückter, sondern, zumindest stellenweise wie im ,Leiermann‘, ein Mensch ,am Rande der Unvernunft‘“.
Sein immenses Wissen über Musik kehrt Brendel niemals belehrend hervor. Wie nebenbei erfährt man, Schubert sei Mitglied der Wiener Unsinnsgesellschaft gewesen, aber seine Musik habe mit Unsinn nichts am Hut. Keinen Spaß versteht der Autor bei musikalischen Fragen im engeren Sinn, etwa bei die Frage, ob im Lied „Wasserflut“ die punktierte Sechzehntel der rechten Hand des Klavierparts mit dem letzten Achtel der Triole linkerhand zusammenfalle oder nicht. Natürlich fallen sie zusammen, Brendel hat Autograph und Erstdruck gelesen und begründet seine Interpretation fulminant, aber ohne den kritisierten Bostridge deswegen irgendwie geringzuschätzen.
Der Schriftsteller Alfred Brendel spart nicht mit Feststellungen, kommt aber ohne jeden Hauch von Behauptungsprosa aus. Seine Essays agieren nicht rhetorisch oder dramatisch, sie streben nicht zwingend auf ein Finale zu; eher gleichen sie einem filmisch montierten Scherzo. Und immer wieder leuchten Sätze heraus wie dieser: „Wenn Fischer spielte, gab es einen Vorhang weniger vor der Seele.“
Der Humor kommt bei diesem Autor nie zu kurz. „Als schreibender Pianist hat man mich einen ,wilden Philosophen am Klavier‘ genannt oder in Amerika gar als Intellektuellen eingestuft. Das kommt davon, wenn man Bücher veröffentlicht, eine Brille trägt und nicht Rachmaninow spielt.“ Der Alfred Brendel verweigert dem Leser zwar eine Autobiografie (dafür sei er zu wahrheitsliebend, meint er), aber er entschädigt uns dafür zur Genüge mit dem Vergnügen seiner intelligenten Schreibkunst.