

Vom Gedächtnis- zum Integrationstheater?
Anna Goldenberg in FALTER 41/2018 vom 12.10.2018 (S. 47)
Integration: Max Czollek plädiert in einer Streitschrift für die Anerkennung einer „radikalen Vielfalt“
In Israel wird am Holocaust-Gedenktag der Opfer ebenso wie der Widerstandskämpfer gedacht. Er ist auf das Datum des Aufstands im Warschauer Ghetto von 1943 gelegt. Die beiden deutschen Holocaust-Gedenktage, am 27. Jänner und 9. November, erinnern an die Befreiung von Auschwitz 1945 beziehungsweise die Reichspogromnacht 1938. Für Max Czollek ist dieser Unterschied ein gutes Beispiel für Deutschlands Umgang mit seinen Juden, den er anprangert.
Das „Gedächtnistheater“ der Deutschen, also die deutsche Erinnerungskultur nach 1945, sieht die Juden als Opfer und lässt ihnen wenig Spielraum, die eigene Rolle zu definieren. Schoah, Antisemitismus und Israel sind die vorgegebenen Themen. Für Heldentum, Widerstand oder Rache sei kein Platz, moniert Czollek. Am überzeugendsten sind jene Kapitel, in denen Czollek, Jahrgang 1987, Politikwissenschaftler und Lyriker in Berlin, beschreibt, welche alternativen deutsch-jüdischen Narrative es gibt oder geben sollte. Czollek ist Mitherausgeber der Zeitschrift Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart und nimmt gleich seinen eigenen Gedichtzyklus „A.H.A.S.V.E.R“ (2016) über den „ewigen Juden“ als Beispiel. Lesenswert auch sein historischer Abriss der jüdischen Migration nach dem Zweiten Weltkrieg: Rund 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung in Deutschland haben heute sowjetische Wurzeln. Vergleiche zwischen dem Umgang mit Flüchtlingen durch die erstarkende Rechte und dem Holocaust sind hochsensibles Terrain. Czollek gelingt es, die Kontinuitäten zu zeigen. Parallel zum „Gedächtnistheater“ ortet er ein „Integrationstheater“ in Deutschland. Das Problem am Konzept der Integration sieht er darin, dass es eine Art sei, sich „Gesellschaft als einen Ort mit Zentrum vorzustellen“.
An diese „Leitkultur“ müssen sich lediglich die als fremd Titulierten anpassen. Aber: „Ab wann gilt man nicht mehr als Integrationsverweigerer, sondern als frustrierter Deutscher?“ Czolleks Gegenvorschlag: die Gesellschaft als „Ort der radikalen Vielfalt“ anzuerkennen. Er analysiert, warum der Heimatbegriff auch bei Linken problematisch ist und der Patriotismus anlässlich der Fußball-WM 2006 nicht so harmlos war, wie er aussah. Wie Czollek das alles schreibt, in einer Mischung aus Soziologendeutsch und flapsigen Kommentaren, ist gewöhnungsbedürftig. Seine dazwischengestreuten Schmähs und Wortspiele zielen sichtlich darauf ab, zu verstören.
Die Wut des Ich-Erzählers, der mal mehr, mal weniger in Erscheinung tritt, bleibt spürbar und gibt dem Buch Tempo – aber erzeugt auch Schwächen: So überzeugend die Argumentation, so halbgar sind leider teilweise die Beweise. Die überspitzten Schlussfolgerungen schaden Czolleks Plädoyer mehr, als sie nutzen. So nimmt er etwa den vom deutschen Bundestag 2015 einberufenen „Expertenkreis Antisemitismus“ als Beispiel. In diesem saß kein einziger Jude, weil man, so zitiert Czollek eine Sprecherin, diesen „nicht nach Religionszugehörigkeit, sondern nach fachwissenschaftlicher Expertise“ besetze. Czollek unterstellt dem Innenministerium die Einstellung, dass Juden und Jüdinnen beim Thema Antisemitismus nicht unparteiisch sein könnten. „Man will die Juden nur, wenn sie einem auch nützen.“
Es gibt mehrere solcher Stellen, bei denen man beim Lesen die Stirn runzelt und sich fragt, ob es nicht auch eine differenziertere Interpretation getan hätte. Ähnlich verhält es sich mit dem anfangs genannten Unterschied zwischen dem deutschen und dem israelischen Holocaust-Gedenktag. Anders als Czollek schreibt, ist der israelische Yom Hashoah nicht auf das Datum des Warschauer Ghettoaufstands im Jahr 1943 gelegt. Dieser fand nämlich zum jüdischen Feiertag Pessach statt, weshalb der Gedenktag im neugegründeten Staat Israel nach hinten verschoben wurde, um mit dem Feiertag nicht zu kollidieren. Aber in der Wut vergisst man eben manchmal auf Details.