

Eine Lanze für die Ingenieurskunst brechen
Maik Novotny in FALTER 41/2018 vom 12.10.2018 (S. 46)
Architektur: Roma Agrawal begeistert sich für die Leistung der Bauingenieure, ein Buch nicht nur für Mädchen
Morandi, Morandi, Morandi! Nachdem am 14. August dieses Jahres das Polcevera-Viadukt in Genua katastrophal einstürzte und zahlreiche Autos in die Tiefe riss, wusste sofort jeder den Namen seines Ingenieurs – und das nicht nur, weil die Brücke umgangssprachlich nach ihm benannt war.
In den Kommentarspalten wurde diskutiert, ob es eine gute Idee gewesen war, Stahlseile in Beton einzuhüllen, und ob die anderen Brücken, die Riccardo Morandi rund um die Welt errichtet hatte, wohl auch bald einstürzen würden.
Es ist die Crux der Ingenieure, dass man meistens über sie redet, wenn mal wieder was passiert ist. Wenn es darum geht, wer schuld daran war. Fehlkalkulation! Nachlässigkeit! Gefängnis! Dabei wird nur allzu gerne übersehen, dass Ingenieure in praktisch allen Fällen alles richtig kalkulieren und dabei die wagemutigsten Konstruktionen ermöglichen, vom erdbebensicheren Wolkenkratzer in Taipei bis zur Kuppel aus Spannbeton. Konstruktionen, für die dann oft der Architekt das Lob einheimst.
Eine Ehrenrettung der Ingenieure unternimmt „Die geheime Welt der Bauwerke“, ein kurzweiliges Buch der in Mumbai geborenen Britin Roma Agrawal, selbst Ingenieurin. In mehreren Kapiteln, die nach den Grundelementen des Bauens benannt sind (Ziegel, Beton, Stahl, Wasser), führt sie durch die Welt des Konstruierens.
Sachliche Erklärungen (warum fällt ein Bogen aus Ziegelsteinen nicht zusammen?) wechseln sich ab mit anekdotischen Berichten ihrer Besuche im Pantheon in Rom mit seiner fast 2000 Jahre alten und immer noch tadellos funktionierenden Betonkuppel und der Kathedrale von Mexiko-Stadt, deren Südseite sich auf dem weichen Untergrund um mehrere Meter abgesenkt hatte und die mit raffinierten Maßnahmen wieder geradegerichtet wurde.
Das liest sich in seiner manchmal unpassend naiv anmutenden Erklär-Emsigkeit oft etwas zu „Sendung mit der Maus“-artig („Einen Lehmziegel backt man ganz ähnlich wie einen Kuchen“), aber man muss die Leute eben abholen, wo sie stehen, und sie stehen fast immer skeptisch vor dem Bauzaun und vermuten unerklärlich Kompliziertes, ermüdend Mathematisches dahinter. Sobald eine Gleichung mit Buchstaben auftaucht, werden sie nervös.
Nicht unklug also, dass Agrawal ihre klaren, verständlichen Erläuterungen mit unverdünnter Begeisterung und populärwissenschaftlichen Analogien auflockert. Für etwas mehr toughen Ingenieursstolz wäre hier noch Platz gewesen, denn ganz so einfach lässt sich so ein Brückentragwerk schließlich nicht planen und aufstellen – und Roma Agrawal hat (neben Westeuropas zweithöchstem Wolkenkratzer) selbst Brücken geplant.
Kurz, aber charmant wird der Ursprung dieses Enthusiasmus erzählt (die Autorin spielte als Kind gerne mit Lego), das Autobiografische bleibt jedoch gegenüber dem Erklären der Technik, das mit hilfreichen Skizzen ergänzt wird, immer im Hintergrund. Eine gute Wahl, und umso erstaunlicher, als die 35-Jährige Aktivistin der Vereinigung Women in Engineering ist.
Der Feminismus wird hier sozusagen als unsichtbares Tragwerk integriert, wie Stahl im Stahlbeton. Vielleicht ist das größte Plus dieses Buchs außer der ansteckenden Begeisterung über Fundamente, Gewölbe und Bohrpfähle die Selbstverständlichkeit, mit der Agrawal ihr Wissen und ihr Können als weiblicher Ingenieur vermittelt, ohne die Powerfrau-Keule schwingen zu müssen.
Wenn durch die Lektüre mehr Mädchen die Realisierung eines Lebenstraums als Ingenieurin anstreben, wäre das ein Gewinn. Besser als Morandi können sie es bestimmt.