

Vom glattgebürsteten Struwwelpeter
Birgit Wittstock in FALTER 5/2021 vom 05.02.2021 (S. 45)
Wer nicht folgt, den bestraft das Leben. Das ist die simple wie eindringliche Botschaft des Kinderbuchklassikers „Der Struwwelpeter“, in dem die Figuren der einzelnen Geschichten für Ungehorsam und schlechtes Benehmen zu büßen haben.
Ob Daumenlutscher Konrad mit den abgeschnittenen Daumen, das eingeäscherte zündelnde Paulinchen, der verhungerte Suppenkaspar oder Hanns Guck-in-die-Luft, der fast ertrinkt: Jedes Vergehen wird biblisch bestraft.
Der Frankfurter Psychiater Heinrich Hoffmann hatte die zehn in Reimen verfassten und mit Illustrationen versehenen Geschichten im Jahr 1844 für seinen dreijährigen Sohn erdacht, weil er die damaligen Kinderbücher als „moralisch“ empfand – das Kind solle seine Schlüsse selbst ziehen.
Ein fast revolutionärer Gedanke zu einer Zeit, in der das Bürgertum erst langsam ein Verständnis fürs Kindsein entwickelte. Hoffmann traf mit dem „Struwwelpeter“ den Zeitgeist, sein Buch (dessen Urmanuskript „lustige Geschichten und drollige Bilder“ hieß) wurde zu einem der erfolgreichsten deutschen Kinderbücher.
Das Konzept „Struwwelpeter“ war so beliebt, dass schon wenige Jahre später ein unbekannter Autor den „Militär-Struwwelpeter“ verfasste. Mit den Neufassungen, die seither erschienen, ließe sich ein Regal füllen: „Struwwelliese“, „Struwwelhitler“ und „Anti-Struwwelpeter“ – sie alle erzählen Versionen der bekannten Geschichten und spiegeln dabei die Themen ihrer Zeit.
Längst hat sich auch die Psychologie an den dunklen Geschichten des Struwwelpeters abgearbeitet und ihn mit dem Etikett der schwarzen Pädagogik versehen, die mit dem Schüren archaischer Ängste sensible Kinderpsychen traumatisieren könne.
Trotzdem oder gerade deshalb hat der 90-jährige deutsche Literat Hans Magnus Enzensberger nun seine stark entschärfte Neufassung des Klassikers geschrieben.
In „Struwwelpeters Rückkehr“ wächst nicht nur Konrads abgeschnittener Daumen wieder an, hat Paulinchen ihr Verbrennen nur fingiert, auch der Mohr, der von einem alten, weißen Mann im Netz gehatet wird, bekommt Flankenschutz von seiner Peergroup, denn er ist – so heißt es im Text – „sympathisch, klug und schick“. Enzensberger schneidert Happy Ends für alle, insofern spiegelt „Struwwelpeters Rückkehr“ wie seine Vorgänger die Gegenwart.
Aber ist ein Happy End wirklich notwendig? „Nein“, sagt der Kinderpsychiater und Schriftsteller Paulus Hochgatterer. „Ich glaube, dass Kinder hervorragend damit zurechtkommen, Geschichte und Realität voneinander zu unterscheiden. Mir bereitet es eher Unbehagen, wenn man die intellektuellen Fähigkeiten von Kindern unterschätzt.“
Es sei die Funktion von Kinderliteratur, junge Leser auch mit schwierigen Themen, mit Angst, Rassismus, Ungerechtigkeit und Konflikten zu konfrontieren. „Wenn man Kinder bei der Lektüre begleitet, braucht es keine PC-Offensive“, meint Hochgatterer.
Apropos: Eine Korrektur hat Enzensberger in seiner Neufassung übersehen. In der Geschichte des Zappelphilipps ticken die Uhren noch wie zu früheren Zeiten: Der Vater pocht auf Anerkennung für sein Gehalt, das die Familie ernährt, die Mutter blickt auch in der schönen neuen Welt nur stumm um den Tisch herum.
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