

Nina Brnada in FALTER 51-52/2021 vom 22.12.2021 (S. )
Welche Bücher muss man 2022 lesen und warum? 17 Mitglieder der österreichischen Bundesregierung geben der Falter-Leserschaft ihre persönlichen Buchtipps
Martin F. Polaschek, Bildungsminister (ÖVP)
Florian Freistetter, Helmut Jungwirth: Eine Geschichte der Welt in 100 Mikroorganismen
Dieses Buch erklärt wissenschaftliche Zusammenhänge gut verständlich und mit viel Humor. Auf kreative Art und Weise werfen die Autoren mit dem Mikroskop einen Blick auf die Welt. Aus dieser Perspektive ergeben sich neue Fragen und neue Zusammenhänge. Es ist faszinierend, zu entdecken, wo diese kleinsten Lebewesen überall zu finden sind und wie sie unser Leben beeinflussen. Das Werk unterhält und bildet zugleich. Das ist ein sehr positiver Zugang zu Wissen, und ich kann es daher wärmstens weiterempfehlen.
Wir sind Lebensgemeinschaften
Peter Iwaniewicz in FALTER 42/2021 vom 20.10.2021 (S. 51)
Biologie: Zwei fulminante Bücher erzählen über Mikroorganismen als die wahren Herrscher der Welt und das Prinzip des Lebens
Mikroorganismen, also alle
einzelligen Lebewesen,einschließlich Viren, sind allgegenwärtig. Wir nehmen sie meist nur als Krankheitserreger wahr, und in Zeiten von Seuchen wird uns ihre Existenz schmerzhaft bewusst. Dabei sehen wir nur die Spitze des Eisbergs einer Fülle von mikroskopischen Lebensformen, die unseren Alltag bestimmen und uns viel über den Ursprung des Lebens verraten können. Sie bewohnen alle Umwelten von den Böden der Meere bis in die Atmosphäre, sie bauen Rohstoffe auf und Schadstoffe ab, besiedeln Krankenhäuser und geben Forschungsobjekte von Gentechnikfirmen ab.
Die Erkenntnis, dass wir Menschen aus einzelnen Zellen aufgebaut sind, ist gerade einmal 200 Jahre alt. Mittlerweile beginnt sich auch das Bild von uns selbst als autarken, eigenständigen Lebewesen grundlegend zu ändern: Für jede unserer etwa 30 Billionen Körperzellen tragen wir mindestens eine weitere mikrobielle Zelle mit uns. Etwa eineinhalb Kilogramm unseres Körpergewichts sind Mikroorganismen. Auch wenn es für unser Selbstverständnis schwer zu verkraften ist, wir sind keine isolierten Individuen, sondern eine riesige Lebensgemeinschaft aus menschlichen und nicht-menschlichen Zellen.
Das Wissen über diese verborgene Welt ist trotz aktueller Bedrohung durch das Coronavirus nach wie vor gering. Florian Freistetter, Astronom, Blogger und Mitglied der Science Busters, hat gemeinsam mit dem Molekularbiologen und Professor für Wissenschaftskommunikation Helmut Jungwirth ein Buch geschrieben, das einen faszinierenden Einblick in Lebensweisen und Leistungen dieser Organismengruppe gibt. Es heißt: „Eine Geschichte der Welt in 100 Mikroorganismen“. Gleich auf den ersten Seiten wird klar, dass hier zwei Kommunikationsprofis am Werk sind. In einem lockeren Streitgespräch unterhalten sie sich im Vorwort darüber, was ein Astronom bei diesem Thema verloren habe oder ob Biologie nur eine Hilfswissenschaft der Physik sei. Dann wird in maximal dreiseitigen Kapiteln die Bedeutung einzelner Mikroorganismen aufgerollt. Die Geschichten sind auch ohne biologisches Vorwissen gut zu lesen, bieten aber auch mit historischen und kulturellen Aspekten für fachlich Vorgebildete viel Neues.
Warum ist das Augentierchen der Hoffnungsträger der Raumfahrt? Und weshalb sollten Umweltschützer Fische mit Herpesviren infizieren? Die Fragen auf dem Buchrücken klingen sehr zugespitzt, man bekommt aber dann unaufgeregte und auch immer korrekt in den richtigen Bezug gesetzte Informationen. Ganz wunderbar gelungen ist die Dosierung der einzelnen Erzählungen. Nie hat man das Gefühl, dass sich eine der Biografien zu sehr in Details verliert, aber es bleibt auch kein ökologischer oder historischer Zusammenhang unterbelichtet.
Im Gegenteil, die beiden Autoren haben offenbar das Erfolgsrezept von Tante Joleschs legendären Krautfleckerln berücksichtigt, das in Friedrich Torbergs Erzählung darin bestand, immer noch den Wunsch nach mehr entstehen zu lassen. Nach 300 kurzweiligen Seiten möchte man gerne noch weitere Geschichten über die wahren Herrscher dieser Welt lesen.
Mit der existenziellen Frage „Was ist Leben?“ haben sich im letzten Jahrhundert aus säkularer Sicht zwei bedeutende Naturwissenschaftler auseinandergesetzt und auch gleichnamige Bücher dazu veröffentlicht: Erwin Schrödinger und John Burdon Sanderson Haldane. 2020 hat ein weiterer Nobelpreisträger, der britische Zellbiologe Sir Paul Nurse, in Referenz auf seine Vorgänger ein Buch mit diesem Titel geschrieben, das soeben auf Deutsch erschienen ist. Er fasst den Stand des Wissens kompakt zusammen, geht aber darüber hinaus auch der Frage nach, was daraus für unsere aktuellen Probleme wie Klimawandel, Pandemien und Artensterben abzuleiten wäre.
Nurse erklärt uns an fünf Grundideen, wie Leben „funktioniert“. Zuerst beschreibt er sehr verständlich, was genau in unseren Zellen passiert. Dann erklärt er, wie es Gene schaffen, Informationen zu bewahren, und dabei gleichzeitig in der Lage sind, sich zu verändern. Als Drittes beschreibt er, wie unterschiedliche Lebensformen durch Evolution und natürliche Selektion entstehen und sich zweckmäßig organisieren können. Der Antrieb dabei ist der Zufall und der Steuerungsmechanismus die Notwendigkeit, in einer bestimmten Umwelt überleben zu können.
Das führt zu seinem vierten Lebensprinzip, in dem er darlegt, wie sich Leben durch chemische Prozesse aus einzelnen Elementen zu immer komplexeren Einheiten organisieren kann. Seine fünfte und letzte Grundidee setzt sich damit auseinander, was der Begriff der Information in der Biologie für lebende Wesen bedeutet. Das hört sich in diesem kurzen Abriss der zentralen Inhalte des Buchs vielleicht kompliziert und nach einer Vorlesung für Doktoranden an. Ist es aber keineswegs. Nurse beschreibt die jeweiligen Ideen- und Forschungsgeschichte so plastisch, dass man die aktuellen wissenschaftlichen Theorien gut nachvollziehen und einordnen kann. Begleitet werden die einzelnen Abschnitte von persönlichen Erlebnissen als Kind sowie als Forscher.
Es ist bewundernswert, wie Paul Nurse auf knappen 180 Seiten den Stand des Wissens und der noch kommenden Herausforderungen seiner Disziplin darstellt. Als Leser bekommt man selbst mit nur basalen naturwissenschaftlichen Kenntnissen ein gutes Verständnis für die wundersame Tatsache, die das Lebendige darstellt.
Wer darüber nachzudenken beginnt, was Leben bedeutet, dem wird unweigerlich auch die besondere Verantwortung bewusst, die wir für das Leben auf diesem Planeten haben. Paul Nurse bringt die wesentlichste Erkenntnis dazu in seinem Abschlusssatz auf den Punkt: „Wir müssen uns um das Leben kümmern, wir müssen für es sorgen. Und dazu müssen wir es verstehen.“ Ein gleichermaßen leichtes wie tiefgründiges Buch, das den Blick auf unsere Welt verändert und das man gelesen haben sollte.