

Die Göre aus der Restmüllklasse
Klaus Nüchtern in FALTER 37/2021 vom 15.09.2021 (S. 34)
Unsere Stadt heißt Tal und das ist alles, was man wissen muss. Ich setze die Kapuze auf, schiebe Cypress Hill in den Discman und marschiere los.“ Das fängt ja gut an. Und geht auch so weiter: „Sogar jetzt, wo die Kühe eigentlich ihren Winterschlaf halten müssten, füllen sich die Straßen und Wege wie von Zauberhand mit Mist. Kacke ist hier allgegenwärtig.“
Schon mit den allerersten Sätzen etabliert dieser Roman einen Ton, der entzückt und einen begierig weiterlesen lässt. Mit dem lakonisch-ironischen Idiom, das Angela Lehner der 15-jährigen Ich-Erzählerin von „2001“ in den Mund legt, knüpft sie an die frohgemüte Unverblümtheit ihres vielfach ausgezeichneten Debüts „Vater unser“ (2019) an. Auch die etwas undurchschaubaren Familienverhältnisse finden sich in „2001“ wieder. Die Ich-Erzählerin, Julia Hofer, und ihr Bruder leben alleine, die Eltern sind aus ungeklärten Gründen abwesend.
Als primäre Sozialisationsinstanz fungiert die Peergroup, „Crew“ genannt, ein Grüppchen von einem halben Dutzend Jugendlichen. Unter ihnen ist Julia eindeutig die Jüngste und Unambitionierteste. Nach Meinung ihres älteren Gymnasiasten-Bruders Michael „ohnedies nicht die hellste Kerze am Adventskranz“, landet sie im „Restmüll“, als welcher Julias Hauptschulklasse zynisch apostrophiert wird.
Pädagogische Ambitionen investiert der pseudoliberale, etwas klischeehafte Klassenvorstand in den hoffnungslosen Haufen nur deswegen, weil er hofft, mit einem unkonventionellen und recht breit dargestellten „Experiment“ seines Geschichtsunterrichts hinreichend Aufmerksamkeit zu lukrieren, um sich den Direktorsposten zu sichern. Noch hat diesen die Englischprofessorin Schanovsky inne, die als Einzige auf Julia hält, weil nämlich: „Wenn die Kinder im Deutschunterricht einen Einser für das Nachplappern vom ,Erlkönig‘ kriegen, […] dann kann genauso gut die Hofer Julia einen Einser für das Nachplappern von ,Murder Was the Case‘ bekommen.“
Die „Playlist“, die dem Roman beigefügt ist, enthält neben dem genannten Song von Snoop Doggy Dogg noch weitere 50 Titel (überwiegend Rap und Hip-Hop). Musik ist das identitätsstiftende Medium der „Crew“ und neben Viva-Schauen, Latella-Trinken, Jörg-Haider-Dissen oder Schillinge-in-Euro-Umrechnen auch einer jener Indizes, die den zeithistorischen Rahmen des Romans definieren (der Titel steht fürs Jahr, in dem die neun Monate währende Handlung spielt).
Für Julia ist DJ Tomekk das Letzte, sind Texta die Größten. Deren Auftritt in Tal (eigentlich: Tal am Berg) wird über Wochen zum sehnsuchtsvollen Fluchtpunkt ihres Lebens, gedenkt sie doch, als Rapstar groß rauszukommen: „Zeig mir einen, / der was ich mach, schafft, / Ich senk den Meeresspiegel / mit meinem Muschisaft.“ Und obgleich sich das – so viel darf verraten werden – nicht ausgeht, wird Julia neben den Helden aus Linz ihre fifteen minutes of fame erleben.
Realistisch betrachtet mag Julia Hofer keine allzu glaubwürdige Figur sein. Aber solange sich der Roman, dessen Protagonisten offensiv nicht gendern und sich als „Alter“, „Homo“ oder „Mongo“ anreden, ganz auf deren sarkastisches Schandmaul verlässt, funktioniert er prächtig: „Der Sexblick hat nichts mit Geilheit zu tun, sondern eher mit Stolz. Man kann stolz darauf sein, dass man einen anderen Menschen gefunden hat, der einen abschlecken und sich an einem reiben will.“
Sobald allerdings die Erzählerin selbst fragwürdig wird und „2001“ Phänomene wie Fremdenfeindlichkeit, Rechtsruck oder Homophobie in einer Reihe unvorhersehbarer Eskalationen abhandelt, werden freilich die Mängel des Romans offenbar. Zu diesen zählt auch, dass 9/11 auf den beiden letzten Seiten eher lustlos und uninspiriert abgehakt wird. Hätte die Autorin auf Plot-Dramaturgie, Motivent-
wicklung und Figurenzeichnung so viel Mühe verwandt wie auf den Sound des Romans, er wäre richtig gut geworden. Was nichts daran ändert, dass Julia Hofer eine Heldin dieses Bücherherbstes bleibt.