

Warum kein Ausflug nach Auschwitz?
Barbara Tóth in FALTER 11/2022 vom 18.03.2022 (S. 8)
In einem Atemzug über die Gleise, die nach Auschwitz führen, und über einen „Witwenbuckel“ zu schreiben, das kann nur Yasmina Reza. Die französische Autorin, bekannt für ihre Theaterstücke, führt ihre Leserschaft in ihrem neuen Roman „Serge“ in die Welt der jüdischen Familie Popper ein.
Wir lernen den titelgebenden Serge kennen, den ältesten Sohn, einen gescheiterten Aufschneider. Jean, der Erzähler, ist der Zweitgeborene – eingezwängt zwischen Bewunderung für seinen älteren Bruder und Liebe zu seiner kleinen Schwester Anne, Nana gerufen.
Alle sind sie inzwischen um die 60, was unter anderem Nanas Nacken hat anschwellen lassen. Diese „kleine Fettansammlung, die Frauen oben einen runden Rücken macht und sie in ein anderes Alter katapultiert“, ist der „Witwenbuckel“, den Jean nicht aus dem Kopf kriegt, wenn er später an ihre gemeinsame Auschwitz-Reise denkt. In Erinnerung blieben ihm nicht die Gaskammern, nicht die Holocaust-Dokumentationen, sondern der Moment, in dem er seine geliebte kleine Schwester als alt gewordene Touristin erkennt, im Hintergrund die Gleise, die ins KZ führten.
Nana, vom Vater einst so stolz wie ausfällig „Luxustussi“ gerufen, hat zwei Kinder und ist als Einzige in diesem ungleichen Trio noch verheiratet. Nicht mit einem jüdischen Großbürger, wie es sich ihr Vater wohl gewünscht hätte, sondern mit einem Spanier. Serge hat eine erwachsene Tochter namens Joséphine, die als Visagistin arbeitet. Jean ist kinderlos, kümmert sich aber rührend um seinen ehemaligen Stiefsohn Luc, der ein „besonderes“ Kind ist. Er hat eine Entwicklungsverzögerung.
Josephine hatte die Idee mit dem Familienausflug nach Auschwitz. Sie will ihre Geschichte kennen lernen. Die Poppers stammen von ungarischen Juden ab, viele Verwandte sind von den Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg ermordet worden. Das Judentum wurde in der Familie nur vom Großvater hochgehalten, der seine Solidarität zu Israel demonstrativ auslebte. Die Großmutter hätte ihre Herkunft und die damit verbundenen Erinnerungen und Leid am liebsten verdrängt.
Beide Haltungen sind nicht untypisch für diese Generation. Reza, deren Familie selbst jüdisch-ungarische Wurzeln hat, kennt dieses Milieu bestens.
Yasmina Reza kann die Paradoxien menschlicher Existenzen so humorvoll beschreiben, dass man zugleich erschrickt und lachen muss. Ihr Theaterstück „Gott des Gemetzels“ ist ein moderner Klassiker, nicht nur für Eltern von heranwachsenden Kindern. „Drei Mal Leben“ erspart viel Zeit in der Paartherapie.
„Serge“ nun reizt die Grenzen des Denk- und Sagbaren über den Holocaust aus. Aber im Grunde geht es ums Sterben in Würde – waren die Antidepressiva, die Jeans Lieblingscousin Maurice von der Pflegerin heimlich ins Joghurt gerührt wurden, tatsächlich notwendig? – und um die große Frage: Familie, was heißt das eigentlich?
Die Gaskammern, die Gleise und der Holocaust sind letztlich nicht viel mehr als die Kulisse, vor der sich die großen und kleinen Dramen der Poppers abspielen. Angekommen am Gedenkort empfindet niemand von ihnen das, was man wohl empfinden sollte. Joséphine und ihre Tante Nana arbeiten beflissen jedes Ausstellungsstück ab, Jean wahrt innere Distanz und Serge trotzt. Das ist tragikomisch, aber nicht weiter schlimm.
Könnte so einen Plot auch jemand schreiben, der nicht jüdisch ist?, fragt man sich spätestens in dem Moment, in dem Jean sich über die „allgegenwärtigen Pappelreihen“ am Gedenkort Auschwitz auslässt. „Sauber ist diese Kaserne, gut gepflegte Planquadrate. Ein Museum. Eine Parzelle der Vorhalle, neu arrangiert für Zeitgenossen. Eine noble Geste, die einlullt“, denkt er.
„Vor fünfundsiebzig Jahren wurden die Gaskammern abgestellt“, weiß Joséphine. „Könntest Du uns zwei Minuten in Ruhe lassen“, faucht Serge sie an. Bei der Rückreise sprechen Nana und Serge nicht mehr miteinander.
Ganz zum Schluss des Romans sitzen die drei Geschwister dann doch wieder beisammen, so wie einst als Kinder, als sie sich gerne zu dritt in einen Schubkarren zwängten. Diesmal allerdings in der nuklearmedizinischen Abteilung im fensterlosen Untergeschoß eines Krankenhauses, wie in einem Bunker, in diesen unbequemen Schalensitzen.
Die „drei Popper-Kinder“ sind wieder eine Bande. „Zum letzten Mal waren wir in Auschwitz zusammen und jetzt zum PET-CT im Madeleine-Brès. Wir könnten uns wirklich mal was Lustigeres vornehmen“, sagt Nana.