

"Fanatismus wird nicht unbedingt aus Hass geboren"
Tessa Szyszkowitz in FALTER 50/2022 vom 16.12.2022 (S. 25)
Shon Faye hat sich schon lange von Twitter verabschiedet. Die giftigen Auseinandersetzungen auf dem Kurznachrichtendienst fand sie wenig hilfreich für ihre Arbeit als Autorin, Publizistin und Aktivistin. Hasskampagnen richten sich besonders oft gegen Frauen, was ihr als Transfrau besonders unter die Haut ging. Auf Instagram präsentiert sie sich dagegen ganz gern mit Selfies, mit denen sie Einblicke in ihr Leben als Frau gibt. Selten, aber doch stimmt sie einem Interview zu - wie jetzt mit dem Falter.
Falter: Die Transgender-Frage wird auch in Deutschland und Österreich inzwischen sehr emotional diskutiert. Vor allem in sozialen Medien fliegen die Fetzen. Wieso erregt die Diskussion um Transgender-Menschen derart die Gemüter?
Shon Faye: Fanatismus wird nicht unbedingt aus Hass geboren. Leute denken, sie verteidigen ein höheres Ideal. Kinder, Ehe, Kirche, die weiße Rasse - oder Frauen. Dahinter sitzt Angst. Was wird den Status quo ersetzen? Die Angst betreffend Trans hat damit zu tun, dass die Idee der binären Geschlechter so tief in unserer Gesellschaft eingewoben ist. Das Geschlecht ist eines der ersten Dinge, die wir über jemanden wissen wollen.
Die Angst vor Homosexualität kam oft vonseiten der Kirche oder anderen konservativen Institutionen. Heute aber zerlegt sich das progressive Lager gegenseitig: manche Transgender-Aktivisten gegen manche Feministinnen.
Faye: Dabei ist doch das binäre System für alle restriktiv! Es gibt niemanden auf der Welt, dessen Geschlechtszuschreibung ihn oder sie vollkommen beschreiben kann. Für Frauen ist Gender ein besonders oppressives System. Bei der Geburt als Frau definiert zu werden, heißt immer noch oft, benachteiligt zu werden. Frauen werden in manchen Teilen der Welt auf Reproduktion reduziert. Frauen sind der Gewalt von Männern ausgesetzt. Für mich hat der Kampf der Frauen und jener der Transgender-Personen eine gemeinsame Ausrichtung. Denn die republikanischen Gouverneure, die in den USA den Frauen ihr Recht wegnehmen, über den eigenen Körper zu bestimmen, sind ebenso schnell, wenn es darum geht, Transgender-Menschen den Zugang zum Gesundheitssystem zu verweigern. Dass Biologie nicht als Schicksal angesehen wird, ist für Transgender-Menschen wie für Feministinnen wichtig.
In Amerika ist das aber ein Trend, der bereits vom Höchstgericht unterstützt wird.
Faye: Nicht nur in Amerika sind die Evangelisten, Rechtsradikalen und Faschisten besonders transphob. Auch in Ungarn ist das so. Die sind besessen von Transgender-Personen. Weil Trans-Leute alle Werte infrage stellen, die sie hochhalten.
Feministinnen aber wollen den Transgender-Personen ihre Rechte nicht wegnehmen. Sie fürchten nur, dass Transgender-Personen Frauenrechte einschränken, für die man hart gekämpft hat. Safe Spaces wie Umkleidekabinen oder Toiletten für Frauen zum Beispiel. Faye: Sind Transgender-Frauen eine echte Bedrohung? Transgender-Frauen benutzen seit Jahrzehnten Frauengarderoben. Da fragt niemand nach der Geburtsurkunde. Ich habe noch nie einen Ausweis vorzeigen müssen, wenn ich auf ein Frauenklo gegangen bin.
Manche Feministinnen aber fürchten, dass Transfrauen verkappte Vergewaltiger sein könnten. Können Sie diese Angst verstehen?
Faye: Feministinnen haben Bedenken und das verstehe ich wirklich. Denn diese Ängste resultieren aus einer Geschichte männlicher Gewalt gegen Frauen. Cisfrauen haben hart dafür gekämpft, eigene Räume zu haben, in denen sie vor männlicher Gewalt geschützt sind. Und den nehmen wir Transfrauen ihnen ganz sicher nicht weg. Frauenhäuser sind der Ort, wo Frauen vor männlicher Gewalt geschützt sind. Transfrauen sind genau dieser Gewalt auch ausgesetzt. In manchen Fällen sogar mehr. Wir sollten dafür sorgen, dass jede Frau, die einen Safe Space braucht, einen solchen auch bekommt.
Was schlagen Sie vor, wie könnte der Konflikt entschärft werden?
Faye: Wir brauchen mehr Ressourcen. Durch die Sparpolitik von konservativen Regierungen seit 2010 sind in Großbritannien die Institutionen, die für Frauen geschaffen wurden, heute schlechter ausgestattet. Wir sollten alle zusammen dafür kämpfen, dass nicht weiter bei diesen Einrichtungen gekürzt wird. Denn das ist schlecht für alle Frauen, Cis-, Transqueer, behinderte, schwarze Frauen. Alle Frauen.
Manche Feministinnen haben mit dieser Definition aber grundsätzlich ein Problem. Sie halten Transgender-Frauen - so sagt die britische Autorin Kathleen Stock - für eine Fiktion.
Faye: Für mich selbst habe ich beschlossen, ein Buch zu schreiben und mich öffentlich zu diesen Themen in einem professionellen Kontext zu äußern. Diesen Job kann ich nur machen, wenn ich ruhig bleibe. Deshalb halte ich mich von Twitter fern. Kathleen Stocks Analyse in ihrem Buch "Material Girls", dass Transfrauen in einer "immersiven Fiktion" leben ...
"Immersive Fiktion" heißt in einer Scheinwelt?
Faye: Ja. Das ist für mich eine ganz besonders britische Form der Bigotterie. Wir sagen die unangenehmsten Dinge zueinander, aber in einem ungeheuer höflichen Ton. "Immersive Fiktion" klingt sehr elegant, sie sagt nicht, dass wir lügen oder wahnsinnig sind. Doch sie meint es. Sie präsentiert das auch als Tatsache. Aber das ist es natürlich nicht. Es ist eben ihre Meinung. Was ist die Definition von Frau? Ist es eine rein biologische oder auch politische Frage? Es ist eine umstrittene Definition selbst unter Feministinnen. Ich sehe es als Beleidigung an, wenn mir gesagt wird, dass mein Leben eine Fiktion ist. Ich bin natürlich als Transfrau eine Frau.
Es gibt immer wieder die Forderung, den Begriff "Frau" für etwas anderes zu streichen: "Menschen, die menstruieren."
Faye: Rechtslastige Medien befördern einen "Culture War". Da werden Mythen hochgespielt, wie zum Beispiel dieser, dass Frauen nicht mehr Frauen genannt werden dürfen. Ich kenne keine einzige Transperson, die das fordert. Manches wird auch absichtlich falsch dargestellt, um die Spaltung zwischen Feministinnen und Transgender-Leuten zu vertiefen. Dann streiten sich diese Gruppen miteinander online oder in Person und blicken nicht gemeinsam auf die größeren Probleme, die uns alle betreffen.
In Deutschland gibt es ein neues Gesetz zur Selbstbestimmung des Geschlechts. In Österreich fordert Grünen-Chef Werner Kogler ebenfalls, Self-ID zu erleichtern. Kann man sich das Geschlecht einfach aussuchen?
Faye: Wenn jemand geboren wird, wird er vom Staat als männlich oder weiblich registriert. Die Macht, das zu ändern, obliegt dem Staat. So war es bisher. Personen, die sich in ihrem vorgegebenen Geschlecht nicht wohlfühlen, hatten bisher keine Macht, das selbst zu bestimmen. Aber Transgender-Personen gab es natürlich immer schon. Bereits in der Weimarer Republik in Berlin hat Doktor Magnus Hirschfeld im Institut für Sexologie Patienten wegen Geschlechtsdysphorie behandelt. Ihnen wurden "Transvestiten-Pässe" ausgestellt, damit sie in Berlin auf der Straße nicht verhaftet wurden. Als Cross Dresser konnte einem das damals ja passieren. Mit dem Ausweis wurden sie offiziell als Transvestiten anerkannt - und respektiert. Unsere Anliegen sind also nicht neu, nur haben uns früher nicht so viele Leute wahrgenommen.
Liegt es an den simplifizierenden sozialen Medien, dass die Transgender-Debatte so eskaliert ist?
Faye: Transgender-Menschen werden von rechten Medien oft so dargestellt, als würden wir die Biologie negieren. Aber schauen Sie mich an: Ich habe einen medizinischen Umwandlungsprozess durchgemacht. Ich habe viel Schmerz und viele Schwierigkeiten ertragen, um manche Aspekte meines physischen Geschlechts neu zu bestimmen. Und dann wurde ich auf der Straße weniger belästigt. Je mehr man sich an die soziale Norm anpasst und wie eine Frau oder ein Mann aussieht, umso leichter wird man von der Gesellschaft akzeptiert.
Verstehen Sie die Angst der Eltern, dass Kinder irreversible Änderungen an ihren Körpern durchführen auf die Gefahr hin, dass sie am Ende der Pubertät wieder ganz anders darüber denken?
Faye: Ich verstehe diese Bedenken. Teilweise aber ist es auch moralische Panik, dass immer jüngere Menschen sich als trans outen und immer jünger gender-affirmative Gesundheitspflege bekommen. Es geht dabei aber in erster Linie darum, jungen Menschen zu helfen, Dysphorie und Depression zu bekämpfen und zu verringern. Dafür werden Hormone eingesetzt. Wie bei der Pille, die ist ein hormonelles Verhütungsmittel. Deshalb ist für mich das Argument der körperlichen Selbstbestimmung ein großer Punkt der Einheit zwischen allen Progressiven. Alle Menschen sollten das Recht haben, die größtmögliche Autonomie über ihren Körper zu haben.
Wie war das denn bei Ihnen?
Faye: Wenn Leute meine Stimme hören, merken sie: Sie ist tief. Das ist in meiner Pubertät passiert, das lässt sich nicht ändern. Es ist ein Mythos, dass Kinder schnell in den Transprozess gelassen werden, sie warten in Großbritannien jahrelang auf ihre Behandlung. Die meisten Transmenschen gehen durch ihre Pubertät ohne jede Hilfe.
Oft aber ist Zeit hilfreich, um zu bestimmen, wer man ist?
Faye: Deshalb ist die Selbstbestimmung des Geschlechts auf Dokumenten ein guter Weg -dafür braucht es keine medizinischen Veränderungen, sondern nur bürokratische. Self-ID könnte für manche Menschen das Richtige sein -sie brauchen dann unter Umständen keine medizinische Transition mehr. Wenn wir eine mehr fluide Gesellschaft zulassen, wäre uns damit vielleicht geholfen.