

Es geht um viel mehr als um Kleider
in FALTER 12/2025 vom 21.03.2025 (S. 37)
Schon vor einer seiner letzten Modeschauen für Gucci vor drei Jahren sagte Alessandro Michele: „Heute ein Modedesigner zu sein bedeutet nicht, ein Couturier zu sein.“ Sein Job sei „nicht, einer reichen Frau ein Kleid für eine Gala zu kreieren. Meine Aufgabe ist es, die Tür zu unterschiedlichen Sichtweisen zu öffnen und mit dem Augenblick ins Gespräch zu kommen.“
Für den früheren Kreativdirektor bei Gucci, der heute diese Position bei Valentino innehat, spielt die Auseinandersetzung mit historischen und kulturellen Konzepten eine zentrale Rolle bei Bekleidung.
In „Das Leben der Formen“ schlüpft Michele in die Rolle des Autors – gemeinsam mit dem italienischen Starphilosophen Emanuele Coccia, der an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris lehrt. Vorangegangen sind dem Buch lange Telefongespräche und Nachrichten zwischen Rom und Paris. Ihre Beiträge sind im Werk unterschiedlich gekennzeichnet, Coccias Stimme ist kursiv gesetzt. Die beiden Freunde hinterfragen traditionelle Vorstellungen und parlieren über den Sinn von Mode und Philosophie im Leben.
Im Kapitel „Hollywood“ erzählt Michele über ein für die Modewelt so ungewohntes Defilee. Für die Outfits mit Perlen und Spitzen wählte der Römer als Örtlichkeit das Castel del Monte in Apulien: eine mittelalterliche Festung, deren Architektur kulturelle Elemente aus Nordeuropa, der islamischen Welt und der klassischen Antike verbindet. Für den esoterisch angehauchten Modeschöpfer ein „Sternentor zwischen Himmel und Erde“. Gegen Ende der Schau wurde auf die Festung ein Zelt voller Gestirne projiziert.
Mode ist für Michele durch und durch eine magische Sache – und alles andere als bloß ein Konsumgut. Sie will in seinen Augen als radikale Kunstform wahrgenommen werden, findet sie doch jeden Tag auf der Straße statt und stellt sich damit ständig Debatten.
Die Arbeit des Kreativdirektors dreht sich schon lange um das Spiel mit Geschlechterbildern und die Fluidität der Identität. In „Das Leben der Formen“ erzählt er etwa, wie ihn antike Statuen mit kleinen Penissen und mehrdeutigen Körpern inspirieren. Für den Philosophen Coccia ist Kleidung eine Möglichkeit, Bereiche der Existenz zu erkunden, „die wir bisher noch nicht erlebt haben“.
Spannend ist auch, wenn Michele über seine Faszination für das Doppelte schreibt. Diese Begeisterung brachte er in seiner letzten Modenschau bei Gucci im September 2022 in Mailand zum Ausdruck. 68 eineiige Zwillinge in passenden gleichen Outfits, die über den Laufsteg schritten, waren wie eine Naturgewalt. Er wollte damit zeigen, dass Mode zwar von der seriellen Vervielfältigung lebt, den verschiedensten Individualitäten aber trotzdem nicht im Wege steht.
Das Buch liefert Einblicke in Coccias Denken und Micheles Schaffen. So fesselnd wie dessen Kollektionen ist es aber leider nicht geworden – dafür fehlt ihm die erzählerische Wucht.