

Zurück zum absoluten Ursprung
Kirstin Breitenfellner in FALTER 42/2023 vom 20.10.2023 (S. 29)
Julya Rabinowich, geboren 1970 in Petrograd, heute Sankt Petersburg, kam mit sieben Jahren nach Österreich und kennt die Probleme von Entwurzelung und Fremdsein aus eigener Erfahrung. Ihre Tätigkeit als Übersetzerin für Hemayat (Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende) brachte die umtriebige Autorin und Kolumnistin in Kontakt mit Geschichten von Geflüchteten und ihren Angehörigen. Ihre Geschichten sind in Rabinowichs Jugendroman-Trilogie über das Mädchen Madina eingeflossen, deren dritter Teil nun vorliegt.
In ihrem Jugendbuch-Erstling von 2016, dem ersten Band der Reihe mit dem Titel „Dazwischen ich“, entschied sie sich klugerweise dafür, das Land, aus dem Madina mit ihrer Familie fliehen musste, nicht beim Namen zu nennen. Denn Madinas Schicksal steht für die unzähligen Opfer von Kriegen auf der ganzen Welt. Mit „Dazwischen wir“ legte Rabinowich 2022 eine Fortsetzung vor, die unter anderem den Rassismus in dem kleinen Ort zum Thema hatte, in dem Madina und ihre Familie gelandet sind und auch im dritten Teil noch leben.
Mit zahlreichen Preisen bedacht, gibt es zu beiden Büchern bereits Unterrichtsmaterial. Umso größer waren die Erwartungen an den dritten Band, der den Titel „Der Geruch von Ruß und Rosen“ trägt.
Um es vorweg zu sagen: Das Buch lässt sich auch ohne seine Vorgänger gut verstehen. Und es übertrifft diese noch an, ja, Sprachkraft und dem Mut, auch schwierige, moralisch unlösbare, ja grausame Themen anzufassen.
Ersteres hat damit zu tun, dass Madina inzwischen älter geworden ist. Dass sie für eine jugendliche Icherzählerin bisweilen ein wenig zu altklug und sprachgewaltig daherkommt, nimmt man gerne in Kauf, denn hier stimmt jedes Wort und transportiert nicht nur eine Handlung, sondern trägt einen auf den Flügeln der Imagination davon. Omas Lächeln „schneidet erleuchtete Fluchtwege in die Finsternis, egal wie alt man ist. Ihr Lächeln und der Geruch nach Rosen und süßen Äpfeln im Garten“, bemerkt Madina einmal. „Geheimnisse riechen nach nichts, bis es zu spät ist. Danach riechen sie nach Ruß und Rauch“, an einer anderen Stelle.
Aber zurück zum Plot. Der Krieg in Madinas Heimat ist zu Ende. Sie erfährt davon auf einer Reise mit ihrer besten Freundin Laura nach Venedig. Ihre nächste Reise wird das genaue Gegenteil davon sein: nicht zum Spaß, aus touristischen Gründen und zur Erholung, sondern um ihren Vater zu finden, der in das Kriegsgebiet zurückgekehrt war, um nach seinem Bruder zu suchen. Zusammen mit ihrer Tante Amina lässt Madina den kleinen Bruder und die trauernde Mutter zurück, um sich aus der Ohnmacht des Wartens und Nichtwissens zu befreien und der Wahrheit zu stellen. Denn: „Man kann nicht weglaufen vor dem, was der Krieg gesät hat. Es ist wie beim Igel und Hasen, er steht schon da und wartet auf einen, egal wie schnell man läuft.“
Rabinowich speist ihre Heldin nicht mit unrealistischen Hoffnungen ab, sondern lässt Madina zurückkehren „zu dem absoluten Ursprung, dorthin, wo unser Haus stand“, und ihren schwer kranken Vater finden und zurückbringen. Und sie lässt sie die traumatische Geschichte ihrer Tante Amina entdecken.
Ihr sei bewusst, erklärt Rabinowich im Nachwort, dass sie damit den Leserinnen und Lesern zumute, tief in einen fremden Schmerz zu blicken und „das Knacken des dünnen Eises zu hören, das sich Zivilisation nennt“. Von Amina lernt Madina aber auch, aufzustehen gegen Ungerechtigkeit und Gewalt, selbst wenn sie vom eigenen Vater kommt. Denn, das weiß Madina zum Schluss, sie ist nicht nur „wie immer, dazwischen“, sondern auch „die, die weiter geht“. „Ich bin die, die ankommt.“ Am Ende des Buchs geht Madina zum Studium in eine größere Stadt und stellt sich damit neuen Herausforderungen.
Rabinowich wäre nicht die kluge Erzählerin, die sie ist, wenn sie nicht wüsste, dass dieses Ankommen immer nur zeitweise gelingen kann, Rückschläge jederzeit möglich sind und die Wunden des Krieges nie ganz verheilen werden. Deswegen steht zu hoffen, dass sie Madina auch weiterhin begleiten wird durch ein Leben, das für so viele Menschen heute exemplarisch ist und von dem andere so wenig wissen.