

Ode an ein eigenwilliges Körperteil
Juliane Fischer in FALTER 41/2023 vom 13.10.2023 (S. 30)
Florian Werner schreibt in beachtlichem Tempo alle möglichen Sachbücher: über Kühe, Rap und Schüchternheit. Zuletzt erdachte er eine vielgelobte Liebeserklärung an Raststätten. Sein neuester Wurf ruft "eine kolossale glossale Wende" aus: Es geht also um die Zunge. Die Idee dafür verdankt er seinem Hund, der den vierjährigen Sohn inspirierte, dem Papa morgens zur Begrüßung das Gesicht abzulecken. "So fing ich an, darüber nachzudenken, inwieweit die Zunge bei Menschen und Tieren verschieden ist, inwieweit sie ,animalische' Anteile hat und zugleich doch etwas genuin Menschliches ist", erläutert der Autor auf Nachfrage. Das Ergebnis sind mit lockerem Zungenschlag und Verve formulierte gut 200 Seiten, die für den Bayerischen Sachbuchpreis 2023 nominiert wurden.
Wer sich ein anatomisches Erklärwerk erwartet, sollte sich eher dem "Zungenatlas" zuwenden. Den Fokus auf die Zunge als Sinnesorgan legte schon Boku-Sensoriker Klaus Dürrschmid in "Zungenbekenntnisse". Werner hingegen präsentiert die kultursoziologische Sicht. Warum wird die Zunge oft mit Ekel assoziiert? Was steckt hinter der Ziegenfolter? Wie viel ist das Rolling-Stones-Logo wert? Werner reißt Anekdoten nicht nur an, sondern erzählt detailreich aus.
Er interpretiert die Darstellung der Zunge in Wachsreliefs, Ölgemälden und im Rap, erläutert die erotische Konnotation und den Einsatz als biblisches Motiv. Die herausgestreckte Zunge kann Trotz, Kontrollverlust, Sterblichkeit bedeuten, ein Symbol des Suffs sein, aber auch Signum der ewigen Verdammnis. Wir erfahren: Eine Giraffenzunge misst 50 Zentimeter. Auch Bonobos geben sich Zungenküsse. Umfangreich ist die Sekundärliteratur, mitunter etwas reißerisch der Stil, förmlich greifbar die Lust an der Sprache. Werner hat keine Scheu vor Kalauern wie "die Zunge in aller Munde". Nichtsdestotrotz publizierte er wohl das originellste Werk, das diesem Körperteil je gewidmet wurde.