

Die amerikanische Soft Power
Alfred Pfoser in FALTER 42/2023 vom 20.10.2023 (S. 33)
Mit zahlreichen, stets elegant und einprägsam geschriebenen Büchern hat der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel seit den 1980er-Jahren der deutschsprachigen Leserschaft einen damals für viele unbekannten Kontinent erschlossen. „Go east“ war seine Devise. Methodisch kultivierte er, abseits der üblichen historiografischen Darstellungen, einen phänomenologisch-geografischen Zugang.
„American Matrix“ bleibt bei der bewährten Methode. Die umfassende Geschichte der USA, in 28 Abschnitte gegliedert, gleicht einer Essaysammlung, die keine chronologische Gliederung kennt.
Jedes Kapitel steht gewissermaßen für sich, und doch bilden die einzelnen Abschnitte ein Ganzes. Allerdings nicht im landläufigen – fortlaufenden – Sinn, und schon gar nicht im Sinn einer Auseinandersetzung mit der Gegenwart: Die Krise der Demokratie, von der derzeit so viele andere Bücher über die USA handeln, kommt überhaupt nicht vor. Die Außenpolitik spielt keine Rolle, auch die Kriege in Vietnam, im Irak oder in der Ukraine werden ausgeblendet. Das gegenwärtig prägende Thema der Systemkonkurrenz mit China hat hier keine Bedeutung. Donald Trump wird nur zweimal kurz, Joe Biden überhaupt nicht genannt. „American Matrix“ wirkt ein wenig aus der Zeit gefallen.
Schlögel konzentriert sich ganz auf den prägenden Einfluss, den der „American way of life“ auf die ganze Welt nahm. Die USA setzten Standards und schufen Institutionen, die für alle Kontinente Vorbildwirkung hatten: Motels, Supermärkte, Highways, die Campus-Universitäten, günstige Autos, Stadien, riesige Industriekombinate.
Großprojekte wurden mit Entschiedenheit vorangetrieben und trugen zu neuen Lebensformen wie zum „nation building“ bei: Das Eisenbahnnetz war ein erster Schritt zur Überwindung großer Entfernungen. Der systematische Ausbau der Straßen und Autobahnen schloss auch die ländlichen Gebiete ins große Ganze ein, so wie die rasante Entwicklung des Flugverkehrs die Mobilität nochmals verstärkte. Die Offenheit für neue Erfindungen, die Liberalität in Bezug auf neue Lebensformen gehören für Schlögel genauso zur prägenden „soft power“ der USA wie Distanz und Höflichkeit in den Umgangsformen. Was die Supermacht scheinbar ohne Gewalt vormachte, wurde global kopiert.
Ohne Gewalt? Schlögel verschweigt nicht die brutale Landnahme, mit der die Siedlerbewegung über die Indianergebiete hinwegging. Er nimmt Rassentrennung und Diskriminierung ins Visier. Thomas Jefferson predigte die Prinzipien der Aufklärung und der Gleichheit der Menschen, gleichzeitig hielt er Sklaven und zeugte mit afroamerikanischen Frauen Kinder, die er nicht anerkannte. Heute sind diese dunklen Seiten der amerikanischen Erfolgsgeschichte nicht mehr wegzudiskutieren, wie etwa das neu gegründete „National Museum of African American History“ in Washington beweist. Für Schlögel ein Zeichen dafür, wie lernfähig die USA sind.
Auch als Reisebuch lässt sich „American Matrix“, das die Topografie des Wandels untersucht, lesen: Der Autostadt Detroit als „Motown“ widmet der Autor einen Essay, den Grand Canyon und die Nationalparks macht er als Orte der touristischen Aneignung aus, an denen die Nation die Romantik der unberührten, wilden Natur auslebte.
Schlögel folgt auch vielen Reisenden aus Europa, die die USA erkundeten: Er beginnt mit Alexis de Tocqueville, der durch die USA reiste, um für die französische Regierung über die Gefängnisse dort und für das europäische Publikum „Über die Demokratie in Amerika“ (so der Titel des Klassikers von 1835/40) zu berichten. Das erstaunlichste Reisebuch ist wohl das der beiden sowjetrussischen Schriftsteller Ilja Ilf und Jewgeni Petrof, das 1937, am Höhepunkt des stalinistischen Terrors, die USA für den Pragmatismus, den Komfort und die Servicekultur pries. Lehrreich und vergnüglich.