

Die Spiegelschrift der Freiheit
Kirstin Breitenfellner in FALTER 32/2023 vom 11.08.2023 (S. 27)
Seit der Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2009, in dem auch ihr letzter großer Roman, "Die Atemschaukel", erschien, hat Herta Müller vier Lyrikbände vorgelegt, in denen sie mit Schere und Papier dichtet: mit ausgeschnittenen Wörtern, illustriert mit surrealen Collagen. Dazu kamen Essaybände, Poetologisches sowie Gespräche. Immer wieder meldet sie sich auch politisch zu Wort, zuletzt zum Überfall Russlands auf die Ukraine. Bereits bei der Annexion der Krim 2014 hatte sie ihren Abscheu vor der "dreckigen Propaganda" und dem "verlogenen Krieg" Wladimir Putins bekundet. Denn Müller hat staatlichen Terror am eigenen Leib erlebt.
Geboren und aufgewachsen in einem banatschwäbischen Dorf, wurde sie in den 1980er-Jahren von der rumänischen Securitate drangsaliert, bis ihr die Sprache abhanden kam und sie diese nur durch Dichtung wiedergewinnen konnte. 1987 emigrierte Müller in die Bundesrepublik Deutschland. Seitdem kann sie nicht mehr aufhören, das Verhältnis von Angst und Terror, Sprache und Verstummen, Freiheit und Würde zu erkunden. So auch in ihrem neuen Band "Eine Fliege kommt durch einen halben Wald". Er eröffnet mit einem Text zum deutschen Grundgesetz, das bekanntlich mit den Worten beginnt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." "Das meiste, was ich über Freiheit und Würde gelernt habe", konstatiert Müller, "habe ich aus den Mechanismen der Unterdrückung gelernt. Diese Mechanismen zu beobachten [ ] ist wie die Spiegelschrift der Freiheit zu entziffern."
Unter Diktator Nicolae Ceaușescu sei alles, was sie tun wollte, verboten gewesen. "Und was mir erlaubt war, hab ich mir selbst verboten, weil ich nicht so werden wollte wie diejenigen, die es mir erlaubten." Müller hatte sich geweigert, als Spitzel zu arbeiten, und so ihre Würde zu bewahren versucht. Die Angst -das "Kerngeschäft der Diktatur" - aber nahm sie mit nach Deutschland, wo der Geheimdienst BND sie für einen Spitzel hielt und schikanierte.
Wie man mit einem solchen Schicksal zurande kommt? Müller versucht es mit einem bissigen Humor, dem ein eigener Essay gewidmet ist. "Der Humor ist das Surreale, das auf der Hand liegt, und man braucht es zum Atmen, wenn man am Realen erstickt." Er sei auch eine Form der Analyse sozialer Verhältnisse. Müller lernte ihn erst in der Stadt kennen. In dem "vor Strenge knirschenden Kaff" ihrer Kindheit habe sie niemanden herzhaft lachen hören, schon gar nicht ihre Eltern, die über die Vergangenheit schwiegen. Der Vater ging freiwillig zur SS, die Mutter wurde 1945 in die heutige Ukraine deportiert und verbrachte fünf Jahre im Arbeitslager.
Weitere Texte sind dem chinesischen Autor und Dissidenten Jiao Liwu oder dem austroamerikanischen Komponisten Erich Wolfgang Korngold gewidmet sowie dem schwierigen Verhältnis Deutschlands zu den während der NS-Zeit Emigrierten, die sich nie wieder willkommen fühlen durften, wie etwa der französisch-deutsche Autor Georges-Arthur Goldschmidt. Für sie wirbt Müller zusammen mit Joachim Gauck für ein Exilmuseum. Auch hierzulande würde ein solches gebraucht werden.