

Die Vermutungen von Buchenwald
Sebastian Gilli in FALTER 12/2024 vom 20.03.2024 (S. 19)
Der französische Schriftsteller Mathias Enard steht längst außerhalb des Schattens einer Annie Ernaux oder eines Michel Houellebecq. Seine Romane – mit „Kompass“ über einen Wiener Musikwissenschaftler gewann er den Prix Goncourt 2015 – sind unterhaltsame und gleichzeitig herausfordernde Ereignisse. „Zone“ (2008) etwa erzählt auf 500 Seiten ohne Punkt die Innensicht eines Kämpfers aus dem Jugoslawienkrieg.
Zuletzt erschien auf Deutsch der im Original 2003 veröffentlichte Roman „Der perfekte Schuss“ aus dem Blickwinkel eines Heckenschützen. Das formalästhetisch anspruchsvolle Werk „Das Jahresbankett der Totengräber“ (2021) wiederum lässt einen Anthropologie-Doktoranden zum Bauern werden und spielt auf komisch-groteske Weise sämtliche Todesarten durch.
Seinen Themenbereichen bleibt der 1972 im westfranzösischen Niort geborene Enard auch in „Tanz des Verrats“ (wieder toll übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller) treu: Wissenschaft – diesmal die höhere Mathematik –, Geschichte, Krieg und Gewalt, BRD und DDR, aber auch Liebe, Poesie und Hoffnung stecken den Rahmen ab.
Es geht um Deutschland im 20. Jahrhundert. Enard, der in Berlin lebte, erzählt eine grandios-abgründige Geschichte über den so genialen wie erfundenen Mathematiker und Kommunisten Paul Heudeber und dessen Frau Maja, die ihm zu Ehren eine wissenschaftliche Konferenz organisiert.
Just am 11. September 2001 findet die Veranstaltung auf einem Ausflugsdampfer auf der Havel bei Potsdam statt, wodurch der „schwimmende Kongress“ bald aus den Fugen gerät und statt ehrerbietiger Vorträge unerwartete Geheimnisse an die Oberfläche schwappen. Mit dabei ist auch Irina, die Tochter von Paul und Maja.
In distanziert-analytischer Rede berichtet die Historikerin, deren Forschungsgebiet die Geschichte der Mathematik ist, von ihren außergewöhnlichen Eltern: „Er eine berühmte und gefeierte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens in Ostdeutschland, sie eine Politikerin des Westens, immer der Spionage für den Feind verdächtig.“
Majas Träume einer sozialistischen Utopie in der DDR zerschellen mit dem Volksaufstand von 1953. Sie kehrt in den Westen zurück, um an der Seite von Willy Brandt ihre steile Politkarriere fortzuführen. Doch ihr Mann, der „antifaschistische Mathematiker“, bleibt in der DDR, setzt auf eine akademische Karriere in Ostberlin.
Paul war zwischen 1940 und 1945 im KZ Buchenwald inhaftiert und verfasste inmitten der „extremen Gewalt des Konzentrationslagers“ sein wissenschaftliches Hauptwerk „Die Vermutungen von Buchenwald“. Neben mathematischen Beweisen enthält es auch Gedichte.
Die Aufhebung des Gegensatzes von Wissenschaft und Literatur ist bei Enard zentral. Sein unzeitgemäßer Anspruch ist, umfassend gebildet, ja ein Universalgelehrter zu sein. Inmitten von Gewalt und Krieg sucht er das Verbindende, Humanistische.
Dass der Autor seinen genialen Mathematiker im KZ Buchenwald, das nur einen Steinwurf von der Goethe- und Schillerstadt Weimar entfernt liegt, foltern und dichten lässt, zeugt von dem Misstrauen, das er der Geschichte gegenüber hegt. Wo Geistesgröße entsteht, dort kann auch Geist vernichtet werden.
Als wären jede Menge Namen und Daten, Anspielungen und Assoziationen, mathematische Erklärungen und altpersische Gedichte nicht genug, gibt es in „Tanz des Verrats“ noch eine weitere Ebene. In einem gänzlich anderen Erzählstrang, mit dem das Buch auch beginnt, begegnen wir einem namenlosen Deserteur. Der Soldat trifft auf eine junge, vom Krieg gezeichnete Frau mit Esel.
Mit welcher Dringlichkeit und poetischer Kraft Enard hier Flucht vor dem Krieg, Schändung und Mord, Alleinsein und Natur schildert, ist gleichermaßen abscheulich wie faszinierend. Dennoch: Am Ende gibt es Hoffnung.