

"High Heels trage ich keine mehr"
Petra Hartlieb in FALTER 20/2024 vom 17.05.2024 (S. 30)
Sie ist die Nachfolgerin des Literaturpapstes Marcel Reich-Ranicki. 2003, nach dem Ende des "Literarischen Quartetts", moderierte die Kritikerin Elke Heidenreich höchst erfolgreich die ZDF-Sendung "Lesen!". Ihr Erfolgsrezept war eine durch bodenständiges Auftreten unterstrichene Ehrlichkeit.
Heidenreich faszinieren kleine Geschichten. Ihnen widmet sie sich auch in ihrer eigenen literarischen Tätigkeit. In "Nero Corleone" plant ein draufgängerischer Kater von Italien nach Köln zu übersiedeln. In "Ihr glücklichen Augen" verewigt die Schriftstellerin Reiseerinnerungen abseits touristischer Pfade. Heidenreichs Werke sind Kassenschlager.
Vergangenen Februar feierte die Literaturpäpstin ihren 81. Geburtstag. Am 13. Mai erschien ihr Essay mit dem sprechenden Titel "Altern". Ihrem Publikum stellt die Autorin darin die Frage: Wie war das Leben von Elke Heidenreich? War es eine Verschwendung oder doch unglaublich wunderbar? Welche Version sie am Ende selbst wählte, verrät sie in dem Gespräch, das sie mit der Buchhändlerin und Falter-Podcasterin Petra Hartlieb führte. Es ging um Leben und Tod, Literatur -und um Sex.
Falter: Frau Heidenreich, viele Schriftsteller behaupten, dass sie beim Schreiben nicht an das Publikum denken. Ich glaube das nicht.
Elke Heidenreich: Nein, daran denke ich tatsächlich nie!
Sie haben sich beim Schreiben dieses Essays über das Altern doch sicher gefragt: Liest dieses Buch ein 20-Jähriger oder ein 80-Jähriger?
Heidenreich: Ich schwöre es! Niemals!
Sicher nicht?
Heidenreich: Wenn ich über mein Publikum nachdenke, kann ich nicht schreiben. Sobald ich anfange, bin ich ganz bei mir. Ich fragte mich: Was macht das Alter mit mir? Bin ich glücklich oder unglücklich? Dann wollte ich wissen, was andere dachten. Was schrieben die Literaten vor mir? Welche Artikel publizierten die Zeitungen? Aktuell beschäftigt das Alter die Gesellschaft sehr.
Das war immer schon ein großes Thema.
Heidenreich: Was mir erst kürzlich bewusst wurde. Dabei ist es logisch, denn die Gesellschaft wird immer älter. Dieses Buch konfrontierte mich mit der Frage, was das Altern für mich persönlich bedeutet. Als ich die letzte Seite des Buchs geschrieben hatte, war ich sehr glücklich darüber, alt zu sein. Doch dann traf mich die Frage: Wer wird das lesen? Erst dann!
Der Titel ist klar und unmissverständlich. In großen rosaroten Buchstaben steht auf dem Cover: "Altern." Glauben Sie, jemand kauft ein Buch, das diesen Titel trägt?
Heidenreich: Ich weiß es nicht. Möglicherweise sind einige Leser verwundert und kaufen es dann aus Neugier. Der Verlag hat sich die Reihe "Leben" ausgedacht. Essays über Wohnen, Reisen, Lieben, Schlafen und so weiter. Ich hätte gerne übers Wohnen geschrieben, aber das macht Doris Dörrie.
Warum Wohnen?
Heidenreich: Ich bin innerhalb von acht Städten 23 Mal umgezogen, ich kenn mich aus! Aber der Verlag wollte, dass ich über das Alter schreibe. Im ersten Moment habe ich mich geweigert. Dann lag ich im Bett und realisierte: Ich bin 81 Jahre alt. Natürlich sollte ich über das Altern schreiben. Ich weiß, wie es ist. Die Leser werden sich darin finden.
Sie schreiben: "Ich altere mit Neugier." Was meinen Sie damit?
Heidenreich: Ich setze mich nicht in einen Sessel und warte auf den Tod. Ich habe noch nicht mit dem Leben abgeschlossen und finde die Welt noch immer spannend. Jeder Tag bringt neue Erfahrungen. Solange ich am Leben bin, will ich daran teilnehmen.
Sie haben viel geleistet und noch immer stecken Ideen in Ihnen -was Sie in der Zukunft machen könnten. Doch die Möglichkeiten werden im Alter immer weniger. Sie können nicht mehr nach Paris ziehen oder 20 Bücher schreiben Heidenreich: Ich kann nicht mehr am Wochenende nach New York fliegen. Ja, diese Zeit ist vorbei.
Macht Sie das traurig?
Heidenreich: Nein, ich lehne mich zurück, trinke ein Glas Wein und muss niemandem mehr etwas beweisen, auch mir nicht. Man sollte nichts betrauern, sondern sich fragen: Was habe ich stattdessen erhalten? Mit dem Alter kam auch die Freiheit, zu tun, was ich will.
Die Literatur reduziert alte Frauen häufig auf dieses eine Merkmal. Sie sind nur noch "die Alte" und haben keine eigenständige Persönlichkeit mehr. Heidenreich: Ja, aber das ist falsch.
Warum entsteht dieses Bild so häufig?
Heidenreich: Die Psychoanalytikerin Jane Campbell, selbst in ihren 80ern, erklärt, dass eben viele junge Menschen über Alte schreiben. Die Rollen sind meist klischeehaft: Die Mutter ist dement. Der Vater muss ins Heim. Würden mehr Alte über das Altern schreiben, sähe das ganz anders aus.
Welche Geschichten würden dann entstehen?
Heidenreich: Jane Campbell hat über alte Menschen geschrieben -darüber, wie sie leben und denken. Die eigenen Leidenschaften verschwinden nicht, nur weil man alt ist. Sie nehmen nur andere Formen an. Natürlich tobt kein 80-Jähriger mehr durch die Betten. Aber warum sollte jemand deshalb aufhören zu lieben?
Der Charakter ändert sich also nicht?
Heidenreich: Nein, der Charakter bleibt, wie er ist. Ich gehe mit Freunden essen oder allein aus und verliebe mich in Kellner, die ihren Job gut machen.
Echt? Heidenreich: Klar, ich trinke gern allein in einer Bar ein Glas Wein und beobachte die Menschen. Manche Kellner sind unhöflich, wenn mir jedoch einer das Getränk serviert und mit seiner tiefen Stimme einen schönen Abend wünscht, dann möchte ich mein Leben mit ihm verbringen. Das heißt nicht, dass ich tatsächlich mehr will. Aber Schönheit, Anmut und Flirts erreichen mich noch immer.
Wie verhält es sich mit der Sexualität im Alter? Heidenreich: Das ist ein großes Tabu. Aber natürlich haben alte Menschen noch Sex.
Als Literaturkritikerin machten Sie aus Büchern Bestseller. Fürchten Sie sich davor, irgendwann nicht mehr lesen zu können, weil Sie beispielsweise nichts mehr sehen?
Heidenreich: Ich würde verzweifeln und ganz ehrlich, ich stehe kurz davor. Die Altersschwäche der Augen ist mein größtes Problem. Natürlich, die Knochen schmerzen manchmal. High Heels trage ich keine mehr. Das ist jedoch nebensächlich. Einmal im Monat spritzt mir der Arzt ein Medikament in die Augen. Dann sehe ich mit Brille wieder klar. Ich hoffe, dass ich das bis zum Ende halten kann. Würde mein Augenlicht verschwinden, wäre das furchtbar. Das Lesen ist mein Leben.
Sie haben für das Buch "Altern" Zitate gesammelt. Aus der Bibel, der Philosophie und auch bei Gegenwartsautorinnen und -autoren nachgelesen. Das Alter beschäftigt Menschen seit Jahrhunderten. Warum ist das ein so großes Thema?
Heidenreich: Weil es alle betrifft. Jeder denkt im Moment seines Bewusstwerdens darüber nach, dass das Leben endet, und darüber schreiben die Menschen dann natürlich auch. Ich habe jedoch nicht nach Literatur gesucht. Die Texte sind mir beim Schreiben nach und nach eingefallen.
Die Leichtigkeit, mit der Sie als 81-Jährige über den Tod schreiben, liest sich befreiend. Viele Menschen würden Sie aufgrund Ihres Alters bestimmt nicht auf dieses Thema ansprechen.
Heidenreich: Warum? So viele junge Menschen sterben. Der Tod ist ein ständiger Begleiter der Lebenden. Jean Paul schreibt, dass bei der Geburt des Menschen ein Pfeil abgeschossen wird, der ihn in der Todesstunde erreicht. Solange er fliegt, leben wir. Ich höre meinen Pfeil schon manchmal sirren. Ich habe dieses Geräusch jedoch auch schon als 20-Jährige gekannt. Dass das Leben irgendwann endet, finde ich heute sehr tröstlich.
Wenn man so alt und so berühmt ist wie Sie, weiß man, dass in den großen Redaktionen die Nachrufe im Stehsatz warten. Diesen Trubel um Ihre Person wollen Sie jedoch vermeiden, schreiben Sie in Ihrem Buch. Was planen Sie?
Heidenreich: Meine engsten Freunde und ich, wir werden meinen Tod erstmal geheim halten. Ich möchte verbrannt und irgendwo begraben werden, wo kein Stein und keine Inschrift meine Anwesenheit markieren. Es soll nur einen Abschied im Herzen geben. Wenn dann eine Buchhändlerin anruft und fragt, ob Frau Heidenreich bei ihr lesen könnte, wird meine Freundin antworten: "Elke Heidenreich liest nicht mehr, die ist doch tot."
Sie wollten für Ihre Urne eine Stelle wählen, wo Menschen mit Hunden spazieren gehen können. Ist das richtig?
Heidenreich: Ja, da kann ich eine schöne Geschichte erzählen: Eine Freundin hatte einen wundervollen Hund, den sie sehr liebte. Leider ist sie früh gestorben. Als der Hund einige Jahre später starb, sind wir nachts über die Friedhofsmauer geklettert und haben den Hund zu ihren Füßen begraben. Jetzt ruhen sie dort gemeinsam.
Das erzählen Sie jetzt einfach so? Heidenreich: Ja, herrlich! Keiner weiß, wo dieses Grab ist. Ich würde es auch unter Folter nicht verraten. Er liegt jetzt bei ihr und da gehört er hin.
Haben Sie für die Zukunft vorgesorgt?
Heidenreich: Ja und nein, ich denk darüber nicht nach, weil ich einen tollen Freundeskreis habe und seit fast 20 Jahren mit einem sehr viel jüngeren Mann zusammenlebe. Als wir uns kennenlernten, war er 35 Jahre alt und ich 63.
Das war sehr hellsichtig! Heidenreich: Reiner Zufall! Nun sind wir eben noch zusammen. Als Krankenpfleger habe ich ihn jedoch nicht eingeplant. Ich lebe nur nicht allein. Und dann kümmert sich noch meine beste Freundin. Ich muss somit in kein Heim, was mich sehr beruhigt. Da ich aber ohnehin oft ein zu hohes Tempo vorlege, denke ich, dass ich irgendwann einfach tot umfallen werde.
Hoffentlich schreiben Sie zuvor noch ein paar Bücher und kommen nach Wien, um zu lesen.
Heidenreich: Sehr gern, ich liebe kaum eine Stadt mehr als Wien. Letztes Mal war ich im Hawelka und sagte: "Ich hätte gern Debrecziner mit scharfem Kren und ein Achterl." Der Kellner grantelte: 'Wenn S'den schorfn Kren nema, wern S'a Vierterl brauchn." Ich sagte: "Ich muss aber gleich einen Flieger nehmen und möchte dann nicht betrunken sein." Dann brachte er mir ein Achterl und der Kren war so scharf, dass ich noch ein Achterl bestellen musste. Und der Kellner ärgerte sich: "Ich hab's gewusst! Ich hab's Ihnen doch gesagt!" Ist das nicht wunderbar? Da dachte ich mir: "Mit dem möchte ich mein Leben verbringen."