

Die Generation Pragmatismus tritt ab
Ulrich Rüdenauer in FALTER 12/2024 vom 20.03.2024 (S. 19)
Der deutsche Soziologe Heinz Bude verabschiedet sich mit einem Porträt seinesgleichen in den Ruhestand
Statistisch gesehen sind zwischen Mitte der 1950er-und den späten 1960er-Jahren die meisten Geburten in der Geschichte Österreichs zu verbuchen gewesen. Diese geburtenstarken Jahrgänge stellen derzeit fast 30 Prozent der Bevölkerung. Die ersten Babyboomer sind inzwischen schon im Rentenalter, die anderen auf dem besten Weg dorthin.
Einer von ihnen ist der 1954 geborene Soziologieprofessor Heinz Bude, der sich passenderweise bei seiner Abschiedsvorlesung an der Uni Kassel mit der eigenen Generation beschäftigte. "Abschied von den Boomern" heißt sein jüngstes Buch, eine erweiterte Fassung seines Vortrags.
Eine entscheidende Prägung dieser Alterskohorte war die Nachkriegszeit: Fast jede und jeder in dieser Generation kann sich noch an versehrte Kriegsteilnehmer erinnern, an den Wirtschaftsaufschwung, das erste Fernsehgerät, wahlweise das Schweigen der Eltern oder die Entbehrungsgeschichten der Großeltern.
Die Klassenzimmer waren in den 1960ern und 1970ern voll, die Seminarräume ebenfalls - immer waren die Boomer zu viele. Aber es war auch eine Zeit, in der zumindest kurzzeitig Klassenprivilegien an Bedeutung verloren, Bildungsgerechtigkeit propagiert wurde.
Gleichwohl hatte die Zukunft für die Boomer etwas Ungewisses. "No Future" war nicht nur ein Slogan der Punks, sondern ganz generell ein Lebensgefühl -aber, wie Bude feststellt, gar nicht einmal so ein schlechtes. Das Motto: "Wir lassen uns weder von der Vergangenheit noch von der Zukunft terrorisieren."
In der Charakterisierung der Lebensläufe der Boomer bemüht sich Heinz Bude darum, verschiedene Lebenswirklichkeiten in den Blick zu nehmen und immer auch die Erfahrungen der in der DDR sozialisierten Altersgenossen miteinzubeziehen. Die Wendezeit führte in den neuen Bundesländern zu vielen biografischen Brüchen -sieht man von Erfolgsmenschen wie Angela Merkel ab; in der alten Bundesrepublik verliefen die Wege meist etwas reibungsloser. Für die DDR konstatiert Bude eine tragische Geschichtsauffassung, für die BRD eine ironische. "Boomer-Ost und Boomer-West haben keine gemeinsame Geschichte. Sie werden trotzdem durch den Anteil am Kriegsschicksal ihrer Eltern zusammengehalten. Dies bildet eine Basis für die Auseinandersetzung über die tragische und die ironische Auffassung der deutschen Geschichte nach 1945. Der Krieg und der Völkermord verbinden auch diese Nachkriegsgeneration."
Was die Boomer in Ost und West zusätzlich verbindet: Den Ernstfall des Lebens und der Geschichte mussten sie immer mitbedenken. Scheitern wurde eingeplant; Veränderung bedeutete nicht notwendigerweise Fortschritt. Sie mussten Arrangements treffen und einen gewissen Pragmatismus an den Tag legen. Das ist womöglich der größte Unterschied zu den Millennials und der Generation Z, die dystopischen Szenarien entgegensehen und zwischen Klimakatastrophe, Kriegen und Erosion der Demokratie kaum noch einen Lichtschimmer erhaschen können.
Vielleicht sind die Boomer für die kommenden Aufgaben gar keine so schlechten Ratgeber, schließt Bude seinen pointierten Generationenrückblick recht versöhnlich: Ihr Skeptizismus gegenüber Heilsversprechen, auch ihre Fähigkeit zum Experiment sind dafür gute Voraussetzungen. "Wirkungswille ohne Letztbegründung", bringt Bude es auf den Punkt. Und deutet an, dass das eine Formel für die Zukunft sein könnte.