

Das denkende Herz Israels schlägt für den Frieden
Tessa Szyszkowitz in FALTER 7/2024 vom 16.02.2024 (S. 18)
Seit dem 7. Oktober sind vier Monate vergangen. In Tel Aviv hängen nach wie vor überall die Fotos der Geiseln. Über 100 Israelis sind immer noch im Gazastreifen in den Händen der Hamas. "Wie Schlafwandler irren wir durch die Tage und Nächte", hat der israelische Schriftsteller David Grossman in seiner Rede "Schwarzer Schabbat" nach dem Massaker der Hamas gesagt. Die israelische Regierung lehnt ein Abkommen über die Geiseln ab, weil sie ihr Kriegsziel, die Hamas zu vernichten, noch immer nicht erreicht hat. Gaza liegt in Schutt und Asche. Jeder Tag kann der letzte sein für die Israelis, die in den Tunneln unter Gaza gefangen gehalten werden.
Zu kurz war die Zeit bisher und zu hektisch der Alltag, um das Trauma des Hamas-Angriffs und den neuen Krieg gegen Gaza schon literarisch verarbeitet zu haben. Um dennoch etwas zu der derzeit hitzig geführten Nahost-Debatte beizutragen, hat der Hanser-Verlag soeben ein Bändchen von Reden und Beiträgen des israelischen Schriftstellers David Grossman veröffentlicht: "Frieden ist die einzige Option."
Schwarzer Schabbat Die Reden sind nicht chronologisch geordnet, was vielleicht thematisch Sinn macht, aber irgendwie verwirrt. Eines aber ist klar: Grossman hat die Logik der Gewalteskalation immer schon durchschaut. 2017 auf der Münchner Sicherheitskonferenz flehte er: "Wenn Ihnen Frieden und Sicherheit wichtig sind, dann unternehmen Sie etwas, um Israel und die Palästinenser aus dem Kreislauf der Selbstzerstörung zu erretten."
Das ist nicht passiert. "Was heute geschieht, zeigt uns den Preis, den Israelis zu zahlen haben, weil sie sich jahrelang von korrupten Politikern verführen ließen, die den Staat nach und nach an den Rand des Abgrunds trieben, das Justizwesen, das Erziehungswesen wie auch die Armee unterhöhlten und bereit waren, uns alle existenziellen Gefahren auszusetzen, um den Ministerpräsidenten vor einer Gefängnisstrafe zu bewahren", sagt der Autor kurz nach dem 7. Oktober. Er stellt aber auch klar, wem er die Schuld an dem Massaker vom 7. Oktober gibt: "Auch in der Hierarchie des Bösen gibt es eine Rangordnung. Die Gräueltaten dieser Tage sind nicht Israel zuzuschreiben. Sie gehen aufs Konto der Hamas."
Chronist der Tragödie Grossman schreibt nicht nur über ihn, er lebt den Konflikt. Seit Jahrzehnten ist er Friedensaktivist. Seine Romane "Das Lächeln des Lammes","Stichwort: Liebe" oder "Kommt ein Pferd in die Bar" drehen sich, wie seine Sachbücher "Der gelbe Wind" oder "Diesen Krieg kann keiner gewinnen: Chronik eines angekündigten Friedens" immer wieder um die schmerzhafte Geschichte und Gegenwart der Juden und Israels. In seinem Roman "Aus der Zeit fallen" verarbeitete er die größte Tragödie seines Lebens: den Tod seines jüngsten Sohnes Uri im Libanonkrieg 2006.
Der Schriftsteller ist gerade 70 Jahre alt geworden. Wie viele Israelis und Palästinenser zweifelt er heute daran, dass es noch eine Chance auf Frieden gibt. Trotz dieser neuen Katastrophe aber will der Autor nicht aufgeben. In der letzten Rede des Bandes erzählt Grossman von Etty Hillesum, einer jüdischen Holländerin, die in Auschwitz ermordet wurde: "Ihr ganzes Wesen war eine Bewegung der Seele gegen die niederdrückende Schwerkraft der Verzweiflung." Sie wollte "das denkende Herz" des Konzentrationslagers sein. David Grossman, das zeigt dieser Band erneut, ist das denkende Herz Israels.