

Zwischen Depression und Dithyrambus
Christoph Winder in FALTER 12/2025 vom 21.03.2025 (S. 7)
Schaut man sich an, was sowohl Kritik als auch Leserschaft von Nicolas Mathieus Büchern halten, stößt man schnell auf das Wort „intensiv“. Intensität wurde dem Roman „Wie später ihre Kinder“ bescheinigt, mit dem sich der Autor, Jahrgang 1978, in die oberste Literaturliga hinaufgeschrieben und 2018 den Prix Goncourt gewonnen hat. Und intensiv, gar „rückhaltlos intensiv“ (so der Verlag) gebärdet sich auch „Jede Sekunde“, Mathieus jüngstes Opus.
Es hebt an mit einer wütenden Beschimpfung der Literatur, die „nichts ausrichten kann“, bloß ein „jahrhundertealter Wahn“ sei. Weder gewähre sie – désolé, Marcel! – „die wiedergefundene Zeit, diese fixe Idee aus Literaturseminaren noch die Wiederauferstehung. Alle Bücher sind Totenstädte.“
Der Zorn des Ich-Erzählers, der sich, wie wir später erfahren, kaum vom Autor selbst unterscheidet, entzündet sich daran, dass die Literatur versagt und versagen muss, will sie das Unwiederbringliche festhalten. Dieses Unwiederbringliche aber ist die Liebe, bei der sich die Franzosen gut auskennen, auch in deren exaltierteren Varianten: „Jede Liebe ist ein indigenes Volk mit seinen Riten, seiner Grammatik, seinen Feinden, seinen Opfern und der Aussaat, die einen neuen Frühling beschert.“
„Jede Sekunde“ entstand aus einer unglücklich verlaufenen Amour fou, die Mathieu vier Jahre lang mit kurzen Texten auf Facebook und Instagram begleitet hat. Im Bewusstsein des Autors entfalten sich Sekundenepiphanien der Geliebten – „Ich habe alles behalten, deine Hände, deinen Bauch, deinen Mund, das eine weiße Haar und das Schmollen nach dem Aufstehen“ –, ein paradiesischer Gegenwurf zur Ödnis des Alltags und des Lebens überhaupt; „Häuser, Kinderbücher, verregnete Sonntage, diese Millionen Stunden voll Zwänge“. Aussicht auf Erlösung verweigert der Autor: „Es gibt keinen Grund, glücklich zu sein, und es ist mir egal.“
Als Inspirationsquelle nennt Mathieu Annie Ernaux und Louis-Ferdinand Céline. An den politischen Realismus von Ernaux erinnert die mäandernde Gedankenflut, die den Erzähler in seine proletarische Jugend zurückführt; an Céline das Rastlose der Syntax. Der Spagat zwischen dem Dithyrambischen und dem Deprimierenden gelingt dank einer Sprache, die unverbraucht, aber nie zwanghaft originell ist – dazu ist dieses bemerkenswerte Prosagedicht zu fest in der Lebenswirklichkeit verankert. Impotenz der Bücher hin oder her: Solange es Schreiber wie Nicolas Mathieu gibt, braucht man sich um die Zukunft der Literatur keine Sorgen zu machen.