

Präsidenten, Mörder, Spielzeugkarawanen
Barbaba Tóth in FALTER 12/2025 vom 21.03.2025 (S. 6)
Gibt es eine literarische Entsprechung zu dem, was Millionen von Menschen tun, anstatt Bücher zu lesen: das Swipen? Das schnelle Wischen von Szene zu Szene am Bildschirm kann süchtig machen, wenn man ins Leben von Unbekannten blickt, als Miniatur gefasst in nur wenige Sekunden Filmszenen.
Mit ihrem aktuellen Buch „Die Rückseite des Lebens“ hat Yasmina Reza – gewollt oder nicht – eine Art literarisches Swipe-Werk verfasst. Die Autorin, weltberühmt durch Theaterstücke wie „Kunst“, „Drei Mal Leben“ oder „Der Gott des Gemetzels“, begleitete 2008 den damaligen französischen Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy ein Jahr lang im Wahlkampf und lieferte mit „Frühmorgens, abends oder nachts“ eine Art dokumentarischer Collage aus dem absurden Reich der Politik. Zuletzt hatte sie den eindrücklichen jüdischen Familienroman „Serge“ (2022) vorgelegt.
In „Die Rückseite des Lebens“ nun verwebt die heute 65-jährige Schriftstellerin mit feiner Ironie Drama und Dramolette, Komisches und Schreckliches in Beobachtungen, die lebensweise anmuten, ohne in Plattitüden zu verfallen. Über fünfzig Texte finden sich in dem Band, manche nicht einmal zwei Seiten, andere deutlich länger. Thematisch zusammengehalten werden sie dadurch, dass sie Menschen an einem Kipppunkt zeigen. So swipt man sich durch diese Schicksale, ein Kaleidoskop des Allzumenschlichen.
Seit Jahren beobachtet Reza Gerichtsverhandlungen, die großen, glamourösen ebenso wie die kleinen, unspektakulären. Ihre Reportagen von diesen Prozessen bilden den roten Faden des Buches. Dazwischen erzählt sie von Begegnungen aus ihrem eigenem Leben, wobei Venedig, die Stadt, in der sie eine Wohnung hat, eine tragende Rolle spielt. Sie erinnert sich an Menschen kurz vor deren Ableben, etwa an den Regisseur Luc Bondy oder den Literaturnobelpreisträger Imre Kertész und dessen Frau Magda.
Wir erleben die Autorin als Großmutter, die ihre Enkelin bändigt und sich an die Karawanen von Spieltieren erinnert, die ihre Kinder an allen möglichen und unmöglichen Orten der Wohnung aufstellten und die wegzuräumen sie nicht übers Herz brachte.
Das sind die rührenden Rückseiten des Lebens. Die schrecklichen spielen in den Gerichtssälen. Sie handeln von einer Mutter, die ihr Baby eiskalt ins Meer wirft und auf Besessenheit plädiert, oder von einem Mann, der eine Vorzeigeehe führt, aber eines Tages seine Frau beim Joggen ermordet. „Sie verschanzen sich“, so der Kommentar der Autorin, „einvernehmlich hinter dem Bild, das sie abgeben wollen. Wie viele Paare verschwinden auf diese Weise in der Ehehölle?“
Des Weiteren treten auf: ein Erbschleicher, der hochbetage Frauen mit Atropin zu vergiften versucht, oder ein Mann, der sich im Netz um 30 Jahre jünger macht und die Frauen, die er in seine Wohnung lockt, vergewaltigt, und die weinen ihm dennoch nach – oder besser: dem eigenen Traum vom perfekten Prinzen.
Auch Nicolas Sarkozy begegnen wir hier wieder. Der ehemalige Präsident soll über seinen langjährigen Anwalt Thierry Herzog versucht haben, von dem Juristen Gilbert Azibert geheime Informationen aus Ermittlungen in einer anderen Affäre zu erhalten. Im Gegenzug wurde Azibert Unterstützung bei der Bewerbung um einen Posten in Monaco angeboten.
Yasmina Reza fasst es so zusammen: „Was mich betrifft, […] fällt es mir schwer, in den Herren Azibert, Herzog und Sarkozy während dieses achttägigen Berufungsprozesses etwas anderes zu sehen als einen Pfau, einen Dampfplauderer und einen massiv Angstgestörten. Der Erste bläst sich auf, der Zweite umschmeichelt den Dritten und lullt ihn ein, und dieser wiederum will keinen anderen Sound hören als den guter Nachrichten. Drei Figuren einer kleinen Fabel, in der jeder Wind um seine Wichtigkeit macht, dann auf sich selbst zurückgestutzt wird und am Ende genauso schlau ist wie zuvor.“
Poetischer und leichtfüßiger kann man über die Abgründe politischer Korruption nicht schreiben.