

Marlene Dietrich for President!
Thomas Edlinger in FALTER 42/2025 vom 15.10.2025 (S. 8)
ie kannten und schätzten einander: Marlene Dietrich und Willy Brandt einte ihr antifaschistisches Engagement. Die Schauspielerin übersiedelte nach dem internationalen Erfolg des Films „Der Blaue Engel“ 1930 nach Hollywood, nahm die US-amerikanische Staatsbürgerschaft an, munterte die GIs an der Front auf und unterstützte Verfolgte und jüdische Migranten.
Den (west-)deutschen Wiedereingemeindungsversuchen nach Kriegsende verweigerte sie sich. Doch in der Figur des Westberliner Bürgermeisters und späteren Bundeskanzlers Willy Brandt, der im norwegischen Exil den sozialistischen Widerstand gegen Nazi-Deutschland mitorganisiert hatte, fand sie schließlich Halt. „Seine Augen flößen Vertrauen ein“, meinte sie 1963.
Die Annäherung zweier Medienstars, die durch eine Begegnung im Mai 1960 in Berlin historisch verbürgt ist, bildet den Glutkern des zweiten, lustvoll zwischen Zeitdokument, Polit-Fantasy und Graphic Novel changierenden Romans des Schreibkollektivs Bude Munk Wieland. Vor fünf Jahren widmete sich die Dreierbande in ihrem späten Debüt „Aufprall“ der gemeinsamen Zeit in der Westberliner Hausbesetzerszene der 1980er-Jahre. Nun blenden der Soziologe Heinz Bude, die Zeichnerin Bettina Munk und die Marlene-Dietrich-Biografin und Politologin Karin Wieland ihre persönlichen Erfahrungen aus, richten den Blick stattdessen auf eine Zeit, in der Bonn europäisch werden wollte – wie es der Roman Willy Brandts engstem Mitarbeiter Egon Bahr in den Mund legt.
„Transit 64“ wird seinem Titel insofern gerecht, als sich im fast ein wenig nostalgisch anmutenden Agentenflair im Zeichen des Kalten Kriegs die Wege kreuzen. Die Graphic-Novel-Passagen funktionieren wie Close-ups und verweisen auf Dinge, die in den folgenden, mit Ausnahme des Schlussteils lapidar mit Zeit- und Ortsangaben betitelten Kapiteln wichtig werden, lenken mit Spaß am Medienwechsel die Aufmerksamkeit auf Details wie Telefone oder Postkarten.
Was dann zumeist im historischen Präsens passiert (von Marlene Dietrichs umjubelten Konzert in Warschau im Jahr 1964 bis zu Willy Brandts Kniefall sechs Jahre später ebendort) und was so passiert sein könnte, wird mit einigem Witz vorgetragen – etwa dass die erfrischend schnippische Marlene Dietrich eben Marx statt Schiller zum Einschlafen lesen würde.
Eine definitiv fiktive sozialistische Agentin erinnert in ihrem eher unprofessionellen Wunsch aufzufallen, an den Geltungsdrang von Diven à la Dietrich, die sie im Rahmen eines mysteriösen Auftrags treffen soll.
Der Auftrag, das ist die Alternative-facts-Wendung, die diesem leichtfüßigen und dialoglastigen Roman die Transitroute in eine spekulative Zukunft in Aussicht stellt. Brandt plant, die Dietrich als Gegenkandidatin zum damals für seine zweite Amtszeit kandidierenden und mit Vorwürfen zu seiner NS-Vergangenheit konfrontierten Bundespräsidenten Heinrich Lübke aufzustellen.
Die „Ausländerin“ Dietrich im bleiernen Bonn, das wäre aus Sicht von Brandt (und vielleicht auch von Bude Munk Wieland) der personifizierte Fortschritt gewesen, die Verbindung von Antifaschismus, Internationalismus und Feminismus, die manches erspart und anderes ermöglicht hätte: Der Westen, was er war und was er hätte sein können.
Gegenüber einer besseren Moderne finden sich nicht nur die Beharrungskräfte des Verdrängungsweltmeisters BRD, sondern auch der Wille zur Macht made in East Germany. Walter Ulbricht, der langjährige Führer der DDR, biegt sich die Wirklichkeit nämlich genauso zurecht wie heute die Trumps dieser Welt. Er regiert nicht nur mit eisernen Bürokratenfaust, sondern „würde plötzlich behaupten, dass der Tisch, an dem wir sitzen, kein Tisch sei, sondern ein Ententeich“.